Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
berührte sanft seinen Arm.
»Du musst jetzt wieder hineingehen!«
La’ad stieß ein kehliges Knurren aus.
»Nein!« Inna stupste ihn energisch an. »Nein, du kommst nicht mit! Der Basilisk ist dort draußen! Kannst du mir einmal sagen, was Frau Waja und Nadana mit einer Marmorstatue von dir in ihrem Harem anfangen sollen? Jetzt geh’ schon wieder rein, die Frauen brauchen dich!«
Sie löste sich von ihm und schritt erstaunlich sicher den Weg entlang. Inna hielt den Kopf etwas schief und schnalzte in regelmäßigen Abständen mit der Zunge. Selbst Waja hielt dieses Schnalzen für eine Marotte der Kleinen und ahnte nicht, dass sich Inna auf diese Weise anhand der Schallwellen orientieren konnte.
Das Mädchen steuerte nicht auf das streng bewachte Tor zu. Nach einer kurzen Strecke auf dem Hauptweg bog sie ab auf einen von großen Bäumen überschatteten Spazierweg. In ihrem Kopf existierte längst eine eigene Landkarte des Geländes, bestehend aus Geräuschen wie dem Plätschern der Springbrunnen und Gerüchen, die von den Rabatten aus Salbei und Lavendel oder den Rosenbeeten ausgingen.
Plötzlich glaubte sie, ein Echo ihrer eigenen Schritte zu hören. Das Knirschen von Kies unter ihren Sohlen schien einen seltsamen doppelten Widerhall zu haben. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie blieb stehen und hockte sich nieder.
»Basi? Ich weiß, dass du hier bist! Komm’ her!«
Sie griff in ihre Jackentasche und holte eine Handvoll getrocknete Maulbeeren heraus. Eine lange gespaltene Zunge flutsche zwischen ihre Finger.
Inna zog mit der anderen Hand den Basilisken an sich heran. Das Echsentier war nicht größer als ein Hütehund, wenn man seinen langen, mit Hornzacken besetzen Schwanz nicht einrechnete. Wie immer fühlte sich die schuppige Haut kühl und glatt an. Inna strich dem Tier zart über den Kopf, kraulte ihm den Rücken zwischen den schlaffen Schwingen. Anadid hatte dem Basilisken die Flügel brechen lassen, damit er nicht davonflog.
»Basi, du Armer!« Die Beeren waren aufgeschleckt. Sie umfing den Schrecken des Wasserlandes mit beiden Armen und legte für einen Moment ihren Kopf auf den Hals der Echse. Die Einsamkeit und Trauer des der Freiheit beraubten Tieres umfing das Kind wie ein dunkler Mantel. Was Anadid wohl dazu sagen mochte, dass sich der Basilisk als Kuscheltier für ein Bettelkind hergab?
»Ich muss jetzt weiter! Sei brav, Basi, geh’ zurück und erschrecke die Wachen!« Inna strich noch einmal mit beiden Händen über den schuppigen Körper und richtete sich wieder auf. Nachdem sie sich, um die Orientierung wiederzufinden, einmal schnalzend und klickend um ihre eigene Achse gedreht hatte, steuerte sie zielstrebig auf ein kleines Wäldchen zu, das dicht an der Mauer des Anwesens der Kultivierungswut der Gärtner getrotzt hatte.
Inna tastete sich durch das Gestrüpp. Sie las in den Zweigen unter ihren Händen wie ein Sehender in einem Buch. Endlich erreichte sie die Mauer. Auch wenn sich ein großer Mann auf die Zehenspitzen stellte und die Arme streckte, konnte er die Krone nicht erreichen. Außerdem wusste Inna, dass dort oben zwischen den Mauersteinen spitze Dornen und messerscharfe Scherben eingearbeitet waren. Diesen Wall überkletterte niemand leichtfertig. Das hatte Inna auch gar nicht vor.
Sie befühlte das Moos am Fuße der Mauer. Da war er, der große Stein, der wie zufällig hier lag. Inna musste sich mit dem ganzen Gewicht ihres kleinen Körpers dagegenstemmen, um ihn beiseite zu rollen. Der Felsbrocken gab ein Loch frei, dass kaum groß genug schien, um einem Fuchs Durchlass zu gewähren. Allerdings waren Bettelkinder kaum besser genährt als ein solcher. Längst bevor Inna eine Bewohnerin dieses Areals geworden war, wusste sie von diesem Durchschlupf. Die Straßenkinder der Sultansstadt schlichen regelmäßig nächtens in den Park des Herrschers, entweder als Mutprobe oder um zu stehlen, was nicht niet und nagelfest war. Beide Vorhaben konnten tödlich enden. Inna hatte bereits mehrere Gesichter an steinernen Statuen zwischen den Bäumen ertastet, die ihr verteufelt bekannt vorgekommen waren.
Der kurze enge Gang endete draußen in einem niedrigen Gestrüpp. Jetzt war Inna tatsächlich schmutzig genug, um wie ein armes Straßenkind auszusehen. Langsam ging sie auf die Stadt zu, deren Bewohner um diese Zeit in tiefem Schlaf lagen. Fast alle jedenfalls. Die Nachtwächter waren auf jeden Fall in den Straßen und Gassen unterwegs. Und die Diebe.
Die Gasse, auf die Inna
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