Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
zusteuerte, wirkte nicht sehr vertrauenerweckend. Hier lebten und arbeiteten die Ärmeren aus der Zunft der Fleischhauer. Inna konnte den Unrat, der überall herumlag, nicht sehen, aber durch ihre geschärften Sinne überdeutlich riechen. Das Mädchen tastete sich jetzt an den Wänden der Häuser entlang, bevor sie einen Fuß niedersetzte, fühlte sie behutsam vor, ob sie auch wirklich auf festen Boden trat und nicht in verfaultes Gemüse, Schlachtabfälle oder gar Schlimmeres.
Trotz aller Vorsicht stolperte sie plötzlich heftig und stürzte. Instinktiv rollte sie sich zusammen und kam sofort wieder auf die Beine. Angewidert schüttelte sie ihre linke Hand, an der eine klebrige Masse pappte.
»Sieh mal, Yoyo, unser Blindfisch ist wieder da! Haben die feinen Herrschaften dich rausgeworfen? Hast sie wohl beklaut?« Die Stimme gehörte eindeutig zu einem Jungen im Stimmbruch, genau wie die zweite, die Antwort gab.
»Perk, du bist ein Trottel! Wenn du so viel Grips hättest wie Inna, hätte dich auch schon lange jemand adoptiert!«
»Ach, und warum nimmt der Sultan den schlauen Yoyo dann nicht als Sohn an? Geh’ doch in den Palast und stell’ dich vor! Da ist gerade das Bett von Prinz Avid freigeworden, kannst dich reinlegen!«
»Perk, du bist wirklich ein richtiges Ekel!«, sagte Inna ganz ruhig. Sie hatte inzwischen den Standort des Jungen ausgemacht und trat ihn heftig gegen das Schienbein. Er jaulte auf wie ein Hund, den man am Schwanz gezogen hatte.
»Yoyo, hast du gesehen, was der Blindfisch mit mir gemacht hat? Ich hau’ der Göre jetzt aufs Maul!«
»Das machst du nicht, schließlich hast du Inna ein Bein gestellt, da war der Hieb berechtigt!« Eine starke Hand griff nach Innas Arm. »Komm’ rein, erzähle! Die haben dich doch nicht wirklich davongejagt?«
Der junge Bursche zog Inna in das Kellerloch, das auch ihr einst als Unterschlupf gedient hatte. Beleidigt brabbelnd folgte Perk den beiden.
»Nein, ich bin nicht rausgeflogen! Ich habe einen Auftrag, einen sehr geheimen Auftrag! Kann ich euch beiden überhaupt noch vertrauen? Wo ist Allara?« Inna tastete die Lumpenbündel auf dem Boden ab, als würde sie erwarten, die Freundin dort zu finden.
»Eingefangen. Wurde beim Huren erwischt und dann mit einem Fischer zwangsverheiratet.« Perks Stimme klang zitterig. Allara war seine ältere Schwester.
»Oh!«, entfuhr es Inna. Sie vermisste auch den Ältesten und Anführer der kleinen Bande. »Und Sakid?«
»Auch eingefangen. War so blöd, einer Haremsfrau des Sultans auf dem Basar die Börse zu klauen!« Diesmal gab Yoyo Auskunft.
»Hat man ihn zum Basilisken …?« Inna sprach ihre Frage nicht vollständig aus. Ihr graute davor, irgendwann im Sultanspark eine Statue mit den Gesichtszügen eines Freundes zu ertasten. Den Kindern aus diesem Keller hier hatte sie ihr Leben zu verdanken. Hätten sie die kleine Blinde nicht bei sich aufgenommen, als sie mit gerade fünf Jahren zur Waise wurde, hätte Inna verhungern müssen. Oder sie wäre unter ein Fuhrwerk gekommen, irgendwo zu Tode gestürzt, im nächstbesten Tümpel ertrunken - die Auswahl an Todesarten für ein hilfloses Kind war groß.
»Nein, unser Herrscher war großzügig!«, meinte Yoyo sarkastisch. »Sakid durfte auswählen, ob er dem Basilisken oder dem Medikusen des Sultans überstellt wird. Er hat den Medikusen gewählt.«
Inna schwieg betroffen. Sakid würde also sein Leben als Eunuch und Haremswächter fristen müssen. Welch ein Glück, dass irgendein wohlgesonnener Gott ihr Waja geschickt hatte! Schon deshalb sah es Inna als ihre Pflicht an, diesen beiden Männern die Botschaft der gütigen Frau zu überstellen, in deren Macht es stehen sollte, Janica zu retten.
»Also gut! Könnt ihr mir helfen, ein Haus zu finden?« Inna senkte ihre Stimme. Man wusste nie, wer draußen durch die Nacht schlich.
»Ein Haus? Hier in der Stadt?« Yoyo lachte auf. »Hier kennst du doch selbst jede Hütte, Inna!«
»Würde ich um Hilfe bitten, wenn es so einfach wäre? Wisst ihr, wo das Ödland ist?«
»Hm, grässliche Gegend. Da wohnt niemand, Blindfisch!« Perk klopfte ihr auf die Knie.
Inna seufzte. Perk war wirklich nicht der Hellste. Geduldig wiederholte sie die Wegbeschreibung, die der Sklavenhändler Waja gegeben hatte.
»Ich muss da hin! Um jeden Preis!«
»Um jeden Preis? Hast du etwa Geld bei dir?«, erkundigte sich Perk interessiert.
»Ich bin doch nicht so infantil wie du, Perk! Natürlich erhaltet ihr eure Belohnung erst später,
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