Drachenspiele - Roman
dampfte, hin und wieder schoss eine Stichflamme in der Dunkelheit empor. Am Nebentisch hockten vier Bauarbeiter mit nackten Oberkörpern und musterten ihn. Einer hob sein Glas und prostete ihm zu. Paul bedankte sich mit einem kurzen Lächeln.
Er holte die Kassette mit den Worten des Astrologen aus der Tasche, legte sie auf den Tisch und überlegte, was er damit machen sollte.
Herr Leibovitz, ich warne Sie .
Meister Wong hatte, was die Zukunft betraf, zunächst lange über jene Dinge gesprochen, die seine chinesischen Klienten immer am meisten interessierten: die finanziellen Aussichten
in den kommenden Monaten. Pauls monetäre Perspektiven waren nicht rosig, gaben aber auch keinen Anlass zu übermäÃiger Sorge, von riskanten Investitionen musste ihm in diesem Jahr jedoch dringend abgeraten werden. Die Worte des Astrologen berührten ihn nicht sonderlich, er hatte sein Geld in sicheren, festverzinslichen Wertpapieren angelegt, die Rendite war nicht üppig, aber er lebte sehr bescheiden und kam damit aus. Das kleine Konto für besondere Ausgaben und Notfälle hatte er in drei Jahren nicht angerührt.
Plötzlich war Wong ins Stocken geraten. Er hatte erneut gerechnet, in zwei Büchern geblättert, die Stirn gerunzelt, als könne er selbst nicht glauben, was er da errechnet hatte. SchlieÃlich lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schaute Paul über seine Brille hinweg an, verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg lange.
Herr Leibovitz, ich warne Sie .
Sein Berufsethos verbiete es, alles zu sagen, was die Konstellation der Sterne ihm verrate. In diesem besonderen Fall würde er auf sein Honorar verzichten, Paul könne gehen.
Ein paar Sekunden, die ihm endlos schienen, zögerte Paul. Sollte er das Angebot annehmen? Wollte er wirklich jedes Detail wissen? Er dachte an die Geschichte von Ãdipus und die Macht der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Im nächsten Moment ärgerten ihn diese Ãberlegungen; sie bedeuteten, dass er den Vorhersagen dieses Mannes viel zu viel Bedeutung beimaÃ. Selbstverständlich wollte er alles wissen, was er anschlieÃend damit machen würde, war eine andere Geschichte. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und erklärte, dass er gekommen sei, um zu hören, was die Zukunft für ihn bereithalte, er sei ein Mensch, der auch mit schlechten Nachrichten umgehen könne, davon habe es in seinem Leben genug gegeben. Wong blickte ihn nachdenklich an.
Nein.
Am Ende war es Pauls strikte Weigerung, das Büro zu verlassen, ehe er nicht alles gehört hatte, oder vielmehr die Entschlossenheit, die daraus sprach, die den Astrologen umstimmte.
Hüten Sie die Sätze, die ich Ihnen anvertraue. Sie sind nur für Ihre Ohren bestimmt. Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie hören.
Sie werden ...
Drei kurze Sätze, nicht mehr. Ein Orakel, von dem Paul nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Er hatte Prophezeiungen in seinem Leben bisher keinen Glauben geschenkt, doch jetzt konnte er, wie sehr er sich auch bemühte, seine Verunsicherung nicht mehr leugnen.
Das gröÃte Problem war Christine. Sie würde Fragen stellen. Sie würde wissen wollen, was Meister Wong gesagt hatte, und durfte es nicht erfahren. Unter keinen Umständen. Sie würde sich in ihren schlimmsten Ãngsten bestätigt fühlen und den Kontakt auf ein Minimum reduzieren. Er musste sie mit einer wohlbedachten Geschichte beruhigen. Die Aussicht, sie belügen zu müssen, vergröÃerte sein Unbehagen noch. Er wusste nicht, wann er das letzte Mal einen Menschen, den er liebte, belogen hatte.
Er lieà die Kassette durch die Finger gleiten, sie war winzig, ein kräftiger Tritt mit der Hacke würde genügen. Oder sollte er sie aufbewahren, wie Christine das tat? Wozu? Was er über seine Zukunft gehört hatte, würde er nicht vergessen. Er trank einen Schluck Bier, fingerte mit einem Zahnstocher ein Stück des braunen Bandes aus der Kassette und zog daran, bis sie abgewickelt war. Er nahm das Knäuel, stand auf und warf es in die Tonne mit den Essensresten.
III
Der Brief lag zwischen Rechnungen von PCCW Mobile und Hong Kong Electric. Christine staunte über die Handschrift. Elegant geschwungene Zeichen, schwarze Tusche, feiner Pinselstrich, mehr eine Kalligrafie als eine Adresse. Ohne Absender. Sie kannte niemanden, der die Zeichen so schön malen konnte. Die Briefmarke. Peopleâs Republic
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