Drachenspiele - Roman
of China. Sie zuckte. Eine erste Ahnung, die sie beiseite schob. Trotzdem setzte sie sich, um das Kuvert zu öffnen.
Â
Meine verehrte Mei-mei,
Â
Kleine Schwester. Das Zittern ihrer Hände. Sie lieà das Papier sinken.
Ihr Bruder war tot. Seit über vierzig Jahren. Verhungert. Verdurstet. Oder im Reisfeld verreckt. Weil sein junger Körper die Strapazen der Ernte nicht mehr ertrug. Ein Opfer der Kulturrevolution. Eines von Millionen. Als Vierzehnjähriger aufs Land geschickt, um von den Bauern zu lernen. Auf Befehl eines paranoiden, wahnsinnig gewordenen GroÃen Vorsitzenden, dem keiner zu widersprechen wagte. Ein kränkelnder, schwächlicher Junge, in die Berge der Provinz Sichuan beordert, weil sein Vater angeblich zur Clique der Intellektuellen gehörte. Seither war er verschollen. Er hatte keine Chance. Wie oft hatte Christine als Kind diesen Satz aus dem Mund ihrer Mutter gehört. Long Long ist tot. Er hatte keine Chance.
Plötzlich war alles wieder da: der warme, feuchte Herbsttag im Jahr 1968. Die vielen lauten Schritte im Hausflur. Die hysterischen Stimmen. Das Bersten der Tür unter den Tritten der Rotgardisten. Die Todesangst im Gesicht ihres Vaters. Ihr Bruder, wo war ihr Bruder gewesen? Warum war
er nicht dabei? Sie sah ihn nicht in diesem Bild. Sie sah ihre Mutter, die hagere Frau in ihrem ausgewaschenen Mao-Anzug. Die Furcht in ihrem Gesicht. Sie sah sich selbst. Unter dem Tisch kauernd. Das kleine Mädchen, das die Augen schloss, Angst und Neugierde öffneten sie wieder. Zwei, drei groÃe schnelle Schritte. Ihr Vater auf dem Fensterbrett hockend. Wie ein fetter schwarzer Rabe, der gleich seine Flügel ausbreiten würde. Er sprang, bevor sie ihn greifen konnten. Die Stille danach.
Ein Unfall. Das war die offizielle Version. Bis heute.
Bald darauf musste ihr Bruder aufs Land. Wenige Monate später floh ihre Mutter mit ihr nach Hongkong. Sie schwammen, bis sie die Kräfte verlieÃen. Drei aus ihrer kleinen Gruppe ertranken. Der Zufall rettete sie. Oder das Schicksal, die Sterne. Ihre Zeit war noch nicht gekommen, behauptete die Mutter später. Im Wasser hatte sie sie beten hören. Seitdem hatten sie nichts mehr von ihrem Bruder gehört.
Wer wagte es, sie als kleine Schwester anzureden? Sie drehte das Blatt. Auf der Rückseite stand sein Name: Wu Da Long. GroÃer Drache.
Meine verehrte Mei-mei,
wie soll ich diesen Brief beginnen? Nach so vielen Jahren. Vermutlich habt ihr geglaubt, ich sei tot. War ich auch, so gut wie. Ein langsames Sterben, vor den Augen eines ganzen Dorfes. Nicht mehr zu den Lebenden gehörend, noch nicht zu den Toten. Ein junges Mädchen hat mich zurückgeholt. Sie ist noch heute meine Frau. Aber ich will nicht zu viel von mir erzählen. Geschwätzig bin ich geworden, wie ein altes Weib.
Erinnerst du dich überhaupt an mich? Long Long haben sie mich genannt. Aber da warst du noch gar nicht geboren.
Später hast du an meinen Händen laufen gelernt. Du warst so klein. Aber gesund. Ich war immer krank. Ein flinkes Mädchen mit einem Scheitel, gerade wie ein Bambusrohr, links und rechts zwei Zöpfe. So sehe ich dich vor mir. Wie magst du heute aussehen? Würden wir uns erkennen, wenn wir voreinander stünden?
Was wird aus dir geworden sein? Bist du verheiratet?
Hast du ein Kind? Ãrztin wolltest du als kleines Mädchen werden. BarfuÃdoktor. Die wanderten damals auf dem Land von Dorf zu Dorf und halfen den Kranken. Du hast sie sehr bewundert. Ich bin sicher, du hast deinen Traum verwirklicht und wirst deine Patienten heute nicht barfuà besuchen.
Du fragst dich wahrscheinlich, warum so viele Jahre vergehen mussten, bis ich dir diesen Brief schreibe. Recht hast du. Es gibt dafür, ich versichere es dir, viele Gründe. Ich werde sie dir erklären, wenn, falls wir uns wiedersehen. Denn das ist das eigentliche Anliegen meines Schreibens: Ich möchte dich sehen. Möglichst bald. Zwar erfreue ich mich guter Gesundheit, aber wer weià schon, wie viel
Zeit ihm noch gegeben ist? AuÃerdem bin ich, auch das möchte ich in diesen Zeilen nicht verschweigen, ohne mein Verschulden in eine äuÃerst schwierige Notlage geraten. Um es klar zu sagen: Ich brauche Hilfe, dringend. Die Zeit ist nicht auf meiner Seite. Du möchtest wissen, worum es geht? Dafür habe ich Verständnis. Bedauerlicherweise sind die Dinge so kompliziert, dass ich sie dir in einem Brief oder am Telefon
Weitere Kostenlose Bücher