Drachenspiele - Roman
an meiner Entscheidung zweifeln. Doch ihr seid alt genug. Ihr braucht uns nicht mehr, im Gegenteil, wir wären eine Last geworden. Sind es schon heute. Hätte ich nicht die Idee gehabt, eine Klage anzustrengen, würde man dich jetzt nicht an einem geheimen Ort gefangenhalten. Dein Leid ist meine Schuld. Ich kann dich nur um Verzeihung bitten. Herr Leibovitz hat mir erzählt, was du getan hast. Ich bewundere deinen Mut und bin sehr stolz auf dich. Du hast es richtig gemacht.
Ich bin in meinem Leben nicht immer so mutig gewesen. Ich habe etwas Fürchterliches getan und nie die Kraft gehabt, mit dir darüber zu reden.
Yin-Yin stockte. Was immer es war, sie zweifelte, ob sie es wissen wollte. Sie schaute Paul an, als könne er ihr diese Frage beantworten.
»Was ist?«
»Mein Vater. Er ⦠er will mir ein Geheimnis verraten.« Sie hielt einen Moment inne. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiterlesen soll.« Sie legte den Brief auf den Tisch. Wusste Paul, worum es ging?
»Es muss ihm sehr wichtig gewesen sein, es dir noch mitzuteilen«, gab er zu bedenken. »Sonst hätte er sich nicht in seinen letzten Stunden die Zeit genommen, dir diese Zeilen zu schreiben.«
Durfte sie sich dem Wunsch ihres Vaters widersetzen? Dieser Brief war für sie bestimmt, ob ihr der Inhalt gefiel oder nicht. Sie nahm das Blatt und las weiter.
Mein Schweigen war ein groÃer Fehler, das weià ich heute, doch nun ist es zu spät.
Geliebtes Xiao Bai Tu, dein Vater war ein schwacher Mensch. Ich habe mich verführen lassen. Ich habe nicht widerstanden. Es waren Zeiten der Finsternis, und ich habe sie für erleuchtete gehalten. Ich war nicht der Einzige, aber das kann keine Entschuldigung sein. Es ist nie eine.
Ich habe meinen Vater verraten. Ich habe die Roten Garden in unser Haus geführt. Er ist meinetwegen aus dem Fenster gesprungen. Sein Tod ist mein Tod. Welche Ungeheuerlichkeiten sich hinter Wörtern verbergen können. Ich habe diese Sätze nur einmal in meinem Leben ausgesprochen, deiner Mutter gegenüber. Sie hat mir vergeben. Ohne den Schutz ihrer Liebe hätte ich nicht überlebt, nun gehe ich mit ihr.
Es schmerzt mich, dass ich nicht erleben kann, wessen Liebe dich und Xiao Hu beschützen wird.
Dein Bruder weià von all dem, er hat es nicht von mir, sondern aus Parteiakten erfahren. Das konnte er mir bis zum Schluss nicht verzeihen.
Vermutlich fragst du dich, warum ich nie den Mut aufgebracht habe, mit euch darüber zu reden. Ich kann dir diese Frage nicht beantworten. Scham hat eine Rolle gespielt. Reue. Mehrmals habe ich den Versuch gemacht, und es dann doch nicht über mich bringen können.
Ich kann nur um euer Verständnis und eure Nachsicht bitten.
In Liebe, dein Papa
Sie las die letzten Zeilen ein zweites, ein drittes Mal, plötzlich fühlte sie Pauls Hand auf ihrer und schaute hoch: »WeiÃt du, worum es geht?«
Er nickte. »Ich vermute es. Bevor ich zu euren Eltern gefahren bin, hat mir Xiao Hu von den Umständen des Todes eures GroÃvaters erzählt.«
Yin-Yin gingen so viele Fragen und Gedanken durch den Kopf, dass sie Mühe hatte, ihnen zu folgen. Warum hatte ihr Bruder sie nicht eingeweiht? Weder vor dem Tod der Eltern noch danach. Gab es noch andere Familiengeheimnisse, von denen sie nichts wusste? Wie hätte sie reagiert, wenn ihr Vater darüber gesprochen hätte? Mit Vorwürfen? Distanz? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Wer war sie, ihm Vorhaltungen zu machen? Wie alt wird er gewesen sein? Zwölf? Dreizehn? Ein Kind!
Sie nahm ihm sein Schweigen nicht übel. Er tat ihr nur leid. Wie viel Kraft musste ihn das in all den Jahren gekostet haben?
Dieser Brief änderte nichts an ihrer Liebe. Er war der Mensch, an dessen Händen sie laufen gelernt hatte; der abwechselnd mit ihrer Mutter nachts an ihrem Bett gewacht hatte, wenn sie krank war; der sie mit Min Fang zusammen ermuntert hatte, Musik zu studieren. Dessen Glaube an sie unerschöpflich schien. Für sie war er der gleiche schweigsame, strenge, liebevolle Vater wie vorher.
Paul blickte sie mit seinen blauen Augen sorgenvoll an und fragte mit bedächtiger Stimme: »Was denkst du?«
Yin-Yin seufzte kurz. Westler, dachte sie, stellen seltsame Fragen, Johann Sebastian war offensichtlich keine Ausnahme. Sie hasste diese Bemerkung. Was denkst du? Wenn sie wollte, dass jemand erfuhr, was sie dachte, würde sie es schon sagen. »Was
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