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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Später wollte er die Angebote der Headhunter prüfen oder sich als Rechtsanwalt selbstständig machen. Yin-Yin schaute ihren Bruder von der Seite an. Aus diesem Blickwinkel hatte er Ähnlichkeit mit Da Long, was ihr gefiel. Er war jetzt ihre Familie. So nah. So fern. Er meinte es gut, hatte ihr großzügig das Geld für diese Reise gegeben, trotzdem brauchte sie den Abstand. Selbst im Abschied. Er nahm sie in den Arm, sie ließ es geschehen.
    Kann man sich selbst ein Fremder sein?
    Die Kraft des Schattigen.

    Paul Leibovitz war nervös; Yin-Yin erkannte es an der Art, wie er immer wieder auf die Anzeigentafel starrte, wie sein Blick hektisch durch die Halle glitt. Er hatte sie unter den Ankommenden noch nicht entdeckt, während sie ihn in Ruhe beobachtete.
    Sie war nicht sicher, wie sie ihm begegnen würde. Nach ihrer Verhaftung hatte sie ihn zunächst als Verbündeten gesehen, der Gedanke an ihn, seine Ermunterungen, seine Zuversicht, hatten ihr in den ersten Tagen Kraft gegeben. In manchen Momenten verfiel sie sogar auf die irrwitzige Idee, er würde für ihre Freilassung sorgen. Nach einer Woche überwogen Enttäuschung und Wut. Alles war seine Schuld. Er saß sicher in Hongkong, er hatte gut reden. Wie naiv sie gewesen war. Wie gutgläubig. Jetzt ließ er sie im Stich. Auch das ging vorüber. Was blieb, war ein unbestimmtes Gefühl, eine Gereiztheit, der sie selbst erst noch auf die Spur kommen musste.
    Als er sie endlich sah, flog ein unsicheres Lächeln über sein angespanntes Gesicht.
    Er umarmte sie umständlich.
    Â»Wie war der Flug?« Niemand war vor Floskeln gefeit.
    Â»Gut.«
    Â»Warst du schon einmal in Hongkong?«
    Â»Nein.« Das hatte sie ihm bereits in einer E-Mail geschrieben.
    Â»Hast du Hunger?«
    Â»Nein.«
    Er nahm ihren Koffer und führte sie zur Station des Airportexpress. Zwischendurch blieb er zweimal stehen, zeigte auf die imposante Dachkonstruktion der Halle, erzählte ihr etwas über den Architekten und die Entstehungsgeschichte des Flughafens, dass er in nur acht Jahren … samt Autobahnen
… zwei Hängebrücken … ein Hafentunnel … Meisterleistung.
    Yin-Yin hörte nicht weiter hin und fragte sich, was mit ihm los war. Er benahm sich wie ein Touristenführer. Wie konnte er annehmen, dass diese Details sie in diesem Moment interessieren würden?
    Sie wollte drei Tage bleiben, jedoch unter keinen Umständen allein in einem Hotel übernachten. Da die Wohnung ihrer Tante offenbar zu klein war, hatten Paul und Christine ihr angeboten, bei ihm zu wohnen, sein Haus sei groß genug. Nun zweifelte Yin-Yin, ob das eine gute Idee war.
    Im Zug herrschte zunächst befangenes Schweigen, während sie fast geräuschlos durch eine Landschaft aus Wasser, grünen Bergen, Hochhäusern, Containern und Kränen glitten.
    Â»Hast du schon gehört, dass gestern drei weitere Sanlitun-Manager verhaftet worden sind?«, fragte Paul.
    Â»Mein Bruder hat es mir erzählt«, antwortete sie beiläufig.
    Â»Ist das nicht großartig?« Als sie nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Selbst viele chinesische Tageszeitungen berichten mittlerweile ausführlich über die Geschichte.«
    Sie nickte.
    Â»Wusstest du, dass das Ganze auch international Schlagzeilen macht?«
    Â»Nein. Oder doch: Xiao Hu hat so etwas gesagt.« Was wollte er von ihr? Dass sie ihm vor Freude um den Hals fiel? Ihm womöglich dankbar war? Es interessierte sie nicht. Mehr als ein Dutzend Manager und Beamte verhaftet. Drei Fabriken, zumindest vorübergehend, stillgelegt. Gewässer und Böden wurden angeblich gründlich untersucht. Allen Betroffenen waren Entschädigungen in Aussicht gestellt worden. Über die Höhe liefen Gespräche. Die Proteste im Internet
waren innerhalb von Tagen zu einem Sturm angewachsen, die Zensur hatte, aus welchen politischen Gründen auch immer, tatenlos zugesehen. Entweder, so hatte Xiao Hu gemutmaßt, sollte an Sanlitun ein Exempel statuiert werden, oder der Druck war so groß geworden, dass die Behörden es nicht mehr wagten, ihn zu ignorieren. Oder aber der Fall passte einfach ideal zur neuen Umweltschutzkampagne der Regierung. Das Fernsehen durfte berichten, die staatlichen Zeitungen. Trotzdem empfand sie weder Stolz noch ein Gefühl des Triumphs.
    Ihre Eltern waren tot.
    Ja, sie war wieder frei, aber für wie lange? Das Ende ihrer Gefangenschaft

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