Drachenspiele - Roman
war genauso willkürlich gewesen wie ihre Verhaftung. Niemand hatte ihr erklärt, warum man sie plötzlich zurück nach Shanghai brachte. Niemand beantwortete ihre Fragen. Niemand war verantwortlich. Ebenso gut konnten plötzlich erneut Männer vor ihrer Tür stehen und sie zwingen mitzukommen. Man hatte sie freigelassen, ein Gefühl von Sicherheit hatte man ihr nicht zurückgegeben.
Die innere Loslösung. Dadurch hat man die Freiheit zu gehen. Sie hatte sich gelöst, sie wusste nur nicht genau zu sagen, wovon, und hatte das Gefühl, wie ein Stück Holz auf dem Meer zu treiben. Die Freiheit zu gehen. Sie hatte sie sich genommen, ohne eine Vorstellung zu haben, wohin der Weg sie führen würde.
Paul spürte offensichtlich, dass seine Fragen sie nicht interessierten. Er schaute sie an, und als sich ihre Blicke trafen, wich er ihrem nicht aus. »Ich freu mich, dich zu sehen«, sagte er plötzlich in jenem vertrauten Ton, den sie aus Shanghai erinnerte. »Entschuldige den Unsinn auf dem Flughafen vorhin. Ich bin â¦Â«, er suchte nach Worten, »ich bin etwas angespannt.«
»Warum?« Es war nicht scheinheilig gemeint.
»Weil, weil mir leid tut, was passiert ist.«
»War es deine Schuld?«
Er schaute sie nachdenklich an.
»Eine Frage, kein Vorwurf.« Sie wollte nicht missverstanden werden.
»Ich war unachtsam.«
»Das warst du.«
»Ich hätte nie gedacht, dass sie so weit gehen. Ich habe â¦Â« Sein fragender Blick. Als könnte sie den Satz für ihn beenden.
»Ich habe die Lage völlig falsch eingeschätzt.«
»Sagst du jetzt, wir hätten nichts unternehmen sollen?«
»Nein, das meine ich nicht. Nach allem, was ihr erreicht habt. Aber ich bin zu leichtfertig gewesen. Dafür möchte ich mich entschuldigen.«
Yin-Yin nickte, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
»Wie hat man«, hörte sie seine zögerliche Stimme, »ich meine, war es â¦Â«
Sie ahnte, dass er dieselben Fragen stellen wollte wie ihr Bruder. Sie würde nicht teilen können, auch mit ihm nicht.
»Darüber möchte ich nicht reden.«
Für eine Weile saÃen sie wortlos nebeneinander.
»Glaubst du an chinesische Astrologie?«, wollte Paul plötzlich wissen.
»Ja, sicher«, antwortete Yin-Yin überrascht. »Warum fragst du?«
»Weil ich vor einigen Wochen bei einem Astrologen war, der prophezeite, ich würde in diesem Jahr Leben geben. Das ist eingetroffen.«
»Und?« sie verstand nicht, worauf er hinauswollte.
»Er hat auch gesagt, dass ich Leben nehmen werde. Hat
sich das, zumindest indirekt, mit dem Tod deiner Eltern nicht auch erfüllt?«
Yin-Yin überlegte kurz. »In gewissem Sinn, ja«, antwortete sie und versuchte ein Lächeln. »Hättest du mir das nicht früher sagen können? Muss ich jetzt aufpassen? Hat er noch etwas prophezeit?«
»Nein.«
Sein Mobiltelefon klingelte. Christine. Ihr ging es nicht gut, sie hatte sich erbrochen und war auf dem Weg nach Hause. Sie entschuldigte sich und hoffte, morgen nach Lamma kommen zu können.
»Wonach ist dir?«, fragte Paul, nachdem er das Gespräch beendet hatte. »Wollen wir in der Stadt etwas essen oder einkaufen, und ich koche zu Hause?«
»Kannst du kochen?«, fragte sie überrascht.
»Christine behauptet, sehr gut sogar.«
»Dann kochen wir. Aber nicht chinesisch.«
»Was dann?«
»Etwas Besonderes. Italienisch vielleicht?«
Die Verwirrung in seinen Augen amüsierte sie. »Italienisch? Kann ich nicht.«
»Deutsch?«
Er lachte laut auf. »Nein, nicht ein Gericht.«
»Dann koche ich.«
»Du? Was denn?«
»Spaghetti mit scharfer Tomatensauce. Das hat mir eine Studentin aus Rom beigebracht. Dort nennt man die Sauce âºil classicoâ¹, glaube ich. Schmeckt wunderbar.«
Sie kauften in einem Supermarkt italienische Nudeln, Dosentomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, Oliven, frisches Basilikum, Parmesan und, darauf bestand Paul, eine Flasche Wein aus der Toskana.
Die Fahrt mit der Fähre gefiel ihr, die Ankunft auf der Insel noch mehr.
Paul zog ihren Koffer den Berg hinauf und kam auÃer Atem.
Im Flur fielen Yin-Yin als Erstes die Kindersachen auf.
Er brachte sie auf ihr Zimmer; es lag im ersten Stock und war ganz in Weià gehalten, unter der Decke hingen zwei rote Lampions. Sie hatte noch nie ein so
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