Drachenspiele - Roman
hinge, solange der Leichnam dieses Mörders einbalsamiert in einem Mausoleum auf dem Platz des Himmlischen Friedens liege, solange dort Menschen in Schlangen warteten, um ihm ihre Ehre zu erweisen. Erst wenn dort ein groÃes Mahnmal für die Opfer der Kommunistischen Partei stehe und der Vorsitzende dieser Partei davor auf die Knie falle und das Volk um Vergebung bitte für die Fehler und Irrtümer dieser Partei und die Millionen von Leben, die diese Fehler und Irrtümer gekostet haben, erst dann wäre sie bereit, dieser Partei, dieser Führung Vertrauen zu schenken. Diesen Tag wolle sie in Ruhe abwarten. Sie habe Zeit.
Die hatte sie nun nicht mehr. Ge-ge brauchte Hilfe, dringend.
Es war ein Gefühl von Verpflichtung und Verantwortung, das sie empfand, weniger Geschwisterliebe. Wo sollte die auch herkommen? Er war ein Bruder, der in ihrem Leben nur durch seine Abwesenheit Spuren hinterlassen hatte.
Christine würde zu ihm fahren, aber niemals ohne Begleitung.
Sie dachte an Paul. Er war der Einzige, der in Frage kam, und der Letzte, den sie bitten wollte. Ein langes gemeinsames Wochenende in Shanghai? Nicht nach den Warnungen des Astrologen. Im Gegensatz zu Paul war sie überzeugt, dass Wong Kah-Wei Dinge wusste, von denen sie keine Ahnung hatten. Trotzdem musste sie mit Paul reden. Seit gestern hatte sie nichts von ihm gehört, am Abend war er nicht ans Telefon gegangen und hatte nicht zurückgerufen. Das war ungewöhnlich, aber sie hatte im Büro zu viel zu tun gehabt, um sich darüber lange Gedanken zu machen.
Es war kurz nach halb neun, wenn sie sich beeilte, könnte sie die 21.30-Fähre nach Yung Shue Wan bekommen und mit dem letzten Schiff zurückfahren. Sie warf einen letzten Blick in den leeren, vollen Raum und lief mit schnellen Schritten Richtung Treppenhaus.
Er freute sich, ihre Stimme zu hören. Selbstverständlich hatte er Zeit für sie.
Paul wartete am Fähranleger. Er hockte auf dem Geländer, trug ein weiÃes T-Shirt, schwarze Flipflops und die hellen, knielangen Shorts, die sie ihm kürzlich geschenkt hatte. Der Wind fuhr durch seine grauen, lockigen Haare. Ihr wurde wieder bewusst, wie wenig man sein Alter schätzen konnte. Die tiefen Falten um die Augen und den Mund, das graue Haar, lieÃen auf einen Menschen über fünfzig schlieÃen, sein
schlanker, durchtrainierter Körper ohne den Ansatz eines Bauches war der eines jüngeren Mannes, sein Lachen konnte das eines Kindes sein. Auch dafür liebte sie ihn.
Er wartete, bis sie vor ihm stand. Ein zärtlicher Blick aus seinen tiefblauen, melancholischen Augen: »Guten Abend, Miss Wu. Was für eine angenehme Ãberraschung, Sie hier begrüÃen zu dürfen.«
Ihr fiel sofort das rote Armband auf.
Er hüpfte vom Geländer, nahm ihre Hand und führte sie wortlos den Pier hinunter. Das schmatzende Geräusch seiner Sandalen bei jedem Schritt. Gleich hinter dem Steg bogen sie ab, gingen an der kleinen Bücherhalle und ein paar heruntergekommenen Holzhütten vorbei und kletterten einen Hügel hinauf. Der Weg wurde schmaler, die Laternen weniger und waren schlieÃlich ganz verschwunden. Doch Paul hatte eine Taschenlampe dabei und leuchtete ihr in der Dunkelheit. Sie liefen auf einem Trampelpfad dicht hintereinander, Zweige kratzten an Christines Waden, mehrmals stolperte sie über Wurzeln, im Gebüsch raschelte etwas, und sie fürchtete, auf eine Schlange zu treten. Er führte sie auf eine Landspitze zu einem achteckigen Aussichtspavillon mit einem chinesischen Dach. Sie setzten sich auf eine Bank, Paul legte den Arm um sie und löschte die Taschenlampe. Ein dunkler, wolkenloser Abendhimmel voller Sterne. Sie saÃen direkt über dem Meer, unter ihnen schlugen kleine Wellen an die Felsen, es roch nach Salz und Fisch, aus der Ferne hörten sie das monotone Rauschen der Schiffsmotoren von den Frachtern, die vor der Insel auf Reede lagen. Er strich ihr durchs Haar, sie saÃen schweigend nebeneinander, und sein rechtes Bein wippte unaufhörlich. Sie kannte das. Ein nervöser Tick von ihm, wenn er angespannt war. Was verbarg sich hinter der ruhigen Gelassenheit, die er ausstrahlte?
»Nun sag schon: Was musst du mir so unbedingt erzählen, dass du spontan am späten Abend nach Lamma kommst?« Seiner Stimme fehlte der Atem. Er war kein guter Schauspieler.
»Ich habe Post bekommen. Von meinem Bruder.«
Sie zeigte ihm den
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