Drachenspiele - Roman
glitt hinein.
Er schwieg, und sie lutschte den Bonbon.
Er nahm ihre Hand und legte etwas hinein. Ein Stück Fleisch, weich und schwer. Er führte ihre Hand. Es wuchs. In ihrer Hand. Wurde hart und heià und feucht.
Er hatte ein Papiertaschentuch dabei und wischte ihr die Hand sauber. Als er ging, legte er drei Bonbons auf den Tisch. Die sind für dich, hörte sie ihn in der Dunkelheit sagen.
Sie erbrach sich erst, als er fort war.
Der Gestank und die Flecken. Ihrer Mutter würde beides nicht entgehen. Niemals durfte sie erfahren, was geschehen war. Sie wischte den Tisch und den Boden im ganzen Zimmer, kroch unter das Bett und hinter die Kartons.
Sie lag stumm im Bett, als ihre Mutter nach Hause kam. Wartete auf ihren Schrei. Sie würde sehen, was geschehen war. Als würde der Bonbon-Mann noch immer neben ihr stehen. Als würde sein heiÃer, aufgeregter, nach Zigarettenrauch und Lust stinkender Atem noch immer den Raum füllen.
Aber alles klang wie immer. Das erschöpfte Stöhnen der Mutter. Aufkochendes Wasser, das Klappern der Teetasse. Dann hörte sie, dass ein Bonbon gelutscht wurde, und erbrach sich erneut.
Die Mutter arbeitete als Näherin in einer Fabrik in Kowloon Bay. In den folgenden Wochen, wenn sie Spätschicht hatte oder Ãberstunden machen musste, und Christine, der es mit jeder Minute unheimlicher wurde, alleine ins Bett gehen sollte, lief sie zum groÃen Eingangstor und wartete
dort. Sie hörte das Summen der vielen hundert Nähmaschinen auf der anderen Seite der Mauer und hockte sich unter eine StraÃenlaterne. StraÃenlaternen waren hell und hielten schlechte Träume fern. Und schwitzende Männer. Im Schein der Lampe schlief sie ein. Sie erwachte vom Schimpfen der Mutter. Was sie sich denke. Auf der StraÃe schlafen. Viel zu gefährlich.
Sie hatten ein Un-Leben geführt. Mutter und Tochter, fast erstickt an ungeweinten Tränen. Ungesagten Sätzen. Ungelebter Trauer.
Damals hatte sie sich nach einem groÃen Bruder gesehnt. So sehr, dass es wehtat. Nicht einen, der als Foto unter dem Kopfkissen ihrer Muter lag. Sie hatte sich vorgestellt, wie er eines Tages vor ihrer Tür stehen und sagen würde: Hallo, Mei-mei, da bin ich wieder. Ein starker und kräftiger junger Mann, einer, vor dem sich blaue Hosen fürchteten.
In den ersten Jahren war er immer bei ihnen gewesen. Später nicht mehr. Die Erinnerung verblasste wie ein Fetzen Stoff, auf den die Sonne scheint. Die Zeiten, in denen sie nicht an ihn dachte, wurden immer länger. Wochen, Monate, Jahre. Er verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen. Als hätte sie nie einen Bruder gehabt.
Jetzt war er zurück. Meine verehrte Mei-mei ...
Sie musste nur die Tür öffnen. Aber um welchen Preis!
Christine hatte sich geschworen, nicht in die Volksrepublik China zu reisen. Nicht, solange dort noch immer jene Partei herrschte, die ihre Familie zerstört hatte. Die aus einem starken Mann ein verängstigtes Männlein gemacht hatte, das aus dem Fenster sprang, ohne Flügel zu haben. Die ihr den Bruder genommen hatte. Und das Lachen der Mutter.
Im vergangenen Jahr waren Paul und sie darüber heftig in Streit geraten. Er wollte mit ihr nach Guilin fahren, sie
hatte abgelehnt. Seine Versuche, sie umzustimmen, verärgerten Christine. Wovor fürchtest du dich? Die Kulturrevolution ist seit mehr als dreiÃig Jahren vorbei, hatte er gesagt. Auch wenn die Ereignisse noch immer lange Schatten warfen, sie brauche keine Angst zu haben. Zehntausende Hongkonger reisten täglich als Geschäftsleute, Touristen oder um Verwandte zu besuchen über die Grenze und kämen wohlbehalten zurück. AuÃerdem lebe sie doch in China, Hongkong sei ein Teil davon, Sonderverwaltungszone hin oder her. Die Stadt sei von Beijing abhängig, wirtschaftlich und politisch, so wie sie es von England nie war.
Wovor also fürchtete sie sich?
Christine wusste es selbst nicht genau. Dass sie sich gemein machte? Dass sie sich mit einer Reise zur Komplizin dieser Regierung machen würde? Sie konnte es nicht wirklich erklären, aber sie hatte das Gefühl, ein Besuch in China wäre eine Geste, die sie überforderte. Damals war Damals. Heute ist Heute. Eine magische Formel, die nicht immer half.
Sie hatte Paul geantwortet, dass sie keine Angst habe, aber dass sie der KP Chinas nicht traue, solange das Porträt des GroÃen Vorsitzenden über dem Eingang zur Verbotenen Stadt
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