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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Flure ab, davon die Türen. Sie wollte ein kleines Mädchen besuchen, das hier sechs Jahre mit seiner Mutter gelebt hatte. In Wohnung Nummer 444. Eine Unglückszahl, die niemand sonst haben wollte. Der Mutter hatte die Kraft oder der Mut gefehlt, um nach einer anderen zu fragen.
    Sechs Jahre. Auf neuneinhalb Quadratmetern. Zu viert. Mutter, Tochter, ein fetter schwarzer Rabe, der nicht fliegen konnte, und ein Phantom.
    Sie blickte in den Gang, ein Tunnel, der zum Ende hin immer schmaler und dunkler wurde. Ganz am Ende lag ihr Raum.
    Still war es geworden. Sie hörte einen Fernseher und ein Radio, sonst nichts. Sie machte ein paar Schritte in Richtung Finsternis. Die Türen waren vergittert, die Ruhe unheimlich. Christine atmete tief ein und wieder aus. Sie ging weiter in die Dunkelheit, der Flur musste an die zweihundert Meter lang sein. Sechshundert kleine Kinderschritte. Sie spürte, wie ihr übel wurde. Damals war Damals. Heute ist Heute. Wie
ein Mantra wiederholte sie diesen Satz, bis sie vor der Wohnung 444 stand. Jemand hatte eine Eisengittertür eingebaut. Sie war angelehnt.
    Â»Hallo?« Die Stille verschluckte ihre Stimme.
    Sie klopfte. Keine Antwort.
    Christine öffnete zaghaft die Tür. Der Raum war unbewohnt. Besenrein. Durch das Fenster fiel das fahle Licht der Straßenbeleuchtung. Die Leere machte den Anblick noch unheimlicher, bot Platz für Bilder, die sie nicht vor Augen haben wollte.
    Ein Doppelstockbett passte hinein. Ein Klapptisch, an dem sie sich immer die Finger klemmte, zwei Klappstühle, ein paar Pappkartons. Ihre Sachen steckten in Tüten, die an zwei quer durch das Zimmer gespannten Leinen hingen.
    Sie waren nie allein. Jedes Wort der Nachbarn hatte sie gehört. Jeden Streit, jede Grobheit, jede Gemeinheit. Jede Zärtlichkeit.
    Ihre Mutter sagte nicht viel. Als hätte sie ihre Stimme in China zurückgelassen. Und ihr Lachen. Alle hatten etwas zurückgelassen, und niemand sprach darüber.
    Manchmal hörte sie die Mutter schluchzen. Sie wusste nicht, warum. Wahrscheinlich lag es an ihr. Sie versuchte ihr Bestes. Das Schluchzen wurde mit der Zeit weniger, ganz auf hörte es nie.
    Einmal fand sie unter dem Kopfkissen ihrer Mutter ein Foto ihres Bruders. Da wusste sie es.
    Die meisten Nachbarräume waren größer, zwölf, fünfzehn, zwanzig Quadratmeter. Dort lebten die Familien mit vielen Kindern. Die Flure waren voll gestellt mit Schränken, Kommoden, Kartons. Daneben saßen die Kinder und machten Hausaufgaben, während die Alten in den Zimmern hockten und Mahjong spielten. Oft war es unerträglich heiß und
feucht, die Luft stand in den Gebäuden, selbst wenn alle Fenster und Türen geöffnet waren.
    Sie hatte niemals jemanden gehört, der sich beklagt hätte. Wer kein fließendes Wasser kennt, freut sich über einen Wasserhahn, auch wenn er ihn mit einem Dutzend Familien teilen muss. Wer aus Hütten und Baracken kommt, stellt keine Ansprüche. Flüchtlinge sind Davongekommene, und das sind genügsame Menschen.
    Plötzlich erinnerte sie den Bonbon-Mann. Wohnung 411. Seine kurze blaue Hose, auf der man jeden Fleck sah. Besonders die weißen. Seine bleichen Beine, sein verschwitztes Unterhemd. An der linken Hand fehlte ihm ein Finger, im Mund einige Zähne, obwohl er nicht alt war. Manchmal schenkte er den Kindern Bonbons. Wunderbar süße, weiche Bonbons, die an den Zähnen klebten. Sie mochten ihn trotzdem nicht. Er war immer da, wo sie ihn nicht erwarteten. Besonders im Dunkeln. Häuser mit viel zu vielen Ecken und Nischen. Treppenhäuser, zu dunkel für Kinderaugen. Flure, zu lang für kurze Kinderbeine.
    Einmal kam er in ihr Zimmer mit einer Bonbontüte in der Hand. Er lachte. Die Lücken in seinen Zähnen sahen wie kleine Höhlen aus. Er trug sein verschwitztes Unterhemd.
    Er fragte: Wo ist denn deine Mutter?
    Sie arbeitet.
    So spät?
    Noch viel später. Es war die Wahrheit und die falsche Antwort. Sie sah es in seinen Augen. Sie leuchteten falsch, ganz falsch.
    Er verriegelte die Tür und löschte das Licht. Er fragte, ob sie Angst habe.
    Nein, log sie.
    Er kam auf sie zu, blieb neben ihr stehen. Sie konnte das
Hemd riechen, hörte seinen Atem über ihr. Ein heißer, aufgeregter, nach Zigarettenrauch und Lust (aber das wusste sie damals noch nicht) stinkender Atem.
    Er sagte: Mund auf, und sie öffnete den Mund. Ein wunderbar süßer, weicher Bonbon

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