Drachenspiele - Roman
nicht erklären kann. Da mir das Reisen unmöglich ist, muss ich dich, auch wenn es mir schwer fällt, bitten, zu mir zu kommen. Ich lebe gut drei Stunden von Shanghai entfernt. Ich habe einen Sohn (Xiao Hu) und eine Tochter (Yin-Yin) in Shanghai. Yin-Yin würde dich
am Flughafen in Empfang nehmen und zu uns bringen. Sie weià von diesem Brief, und es wäre ihr eine groÃe Freude, ich muss es nicht extra betonen, ihre Tante kennen zu lernen. Sie ist ein gutes Mädchen. Sie studiert Musik am Konservatorium und wird bald ihre letzte Prüfung ablegen. Ich weiÃ, dass das alles sehr überraschend für dich kommt. Ich verlange viel. Ich kann in diesem Moment nicht mehr tun, als dich um dein Verständnis bitten.
Eine letzte Frage: Lebt Mama noch? Sollte dem so sein, was ich natürlich von Herzen hoffe, möchte ich dich inständig bitten, ihr von diesem Brief nichts zu erzählen. Die Freude über den Umstand, dass ich lebe, würde getrübt werden von den Sorgen, die ihr meine Notlage bereitet.
Ich hoffe sehr, diese Zeilen haben dich nicht abgeschreckt. Werde ich bald von dir hören?
Ge-ge
Da Long
Darunter eine Adresse und die Telefonnummer von Yin-Yin.
Ge-ge. GroÃer Bruder. Christine legte den Brief zur Seite. Sie nahm noch einmal das Kuvert zur Hand, öffnete es erneut, roch daran, strich mit den Fingern darüber. Als könnte das gefaltete Stück Papier, was die Worte nicht vermochten: ihr den Bruder näher bringen. Während des Lesens war ihre Aufregung einer seltsamen inneren Ruhe gewichen. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihr trauen konnte.
Wer war der Mann, der ihr diese Zeilen geschrieben hatte? Ihr Bruder? Vermutlich, wer sonst in China könnte Details aus ihrer Kindheit wissen. Aber wer war dieser Mensch? Was verband ihn mit ihr?
Sie suchte nach einem Gefühl. Freude. Rührung. Zuneigung. Was sie fand, waren Gedanken.
Ich brauche Hilfe, dringend. Er braucht Geld, war ihr erster Gedanke. Er wendet sich nach vierzig Jahren an seine Familie, weil er Geld braucht. Da mir das Reisen unmöglich ist. Was erwartet er von ihr? Dass sie in das nächste Flugzeug nach Shanghai steigen und ihm einen Koffer mit Banknoten übergeben würde? Weshalb hatten Mutter und sie nicht schon vor Jahren von ihm gehört? Warum hatte er sie in dem Glauben gelassen, er sei tot? Warum will er nicht, dass sie ihrer Mutter etwas erzählt? Christine spürte, wie sich die Ruhe in Wut verwandelte. Er würde ihr alles erklären. Sie wusste nicht, ob sie seine Rechtfertigungen hören wollte.
Hatte sie eine Wahl? Den Brief ignorieren war unmöglich. Sie könnte ihm antworten und ihn bitten, sich zu erklären. Sie könnte ihn vertrösten. Oder ihm schreiben, dass sie keine Ãrztin sei, nicht in einer Villa mit Meerblick lebte, sondern ein kleines mickriges Reisebüro führte und in manchen Monaten selbst nicht wusste, wovon sie die Hypothekenzinsen bezahlen sollte. Christine spürte, dass sie kein Gefühl dafür besaÃ, wie weit ihre Verpflichtungen ihm gegenüber reichten. Sie hatte keine Erfahrung mit Geschwisterliebe.
Es war lange her, dass sie überhaupt an ihn gedacht hatte. Er war ein Fremder geworden. Um sich zu entscheiden, musste sie ihm begegnen, und es gab in Hongkong nur einen Ort, an dem das möglich war: der Lower Ngau Tau Kok Estate.
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Die MTR-Station war voller Menschen. Alle schienen ein Ziel zu haben, strebten mit schnellen Schritten den Ausgängen oder Zügen entgegen. Christine zögerte. Wann war sie das letzte Mal hier gewesen? Es musste Jahre her sein. Sie hatte gelegentlich das Bedürfnis gehabt, es ihrem Sohn zu zeigen, und es doch nicht über sich gebracht. Sie blickte über den
Bahnsteig und die Gleise auf die Wohnblöcke. Von hier sahen sie zwar nicht einladend, aber harmlos aus. Ein Dutzend Gebäude, fünfzehn Stockwerke, blaugrüne Betonfassade statt bunter Kacheln, kleine Fenster. Ãffentlicher Wohnungsbau, frühe sechziger Jahre, für den nicht enden wollenden Strom der Flüchtlinge aus China.
Sie nahm die Treppe, nicht die Rolltreppe. Jeden Moment umkehren zu können war ihr wichtig.
Sie ging durch eine belebte Gasse mit Geschäften und Restaurants und stand nach wenigen Minuten in einem Hausflur. Kahle, graue Betonwände, grelle, weiÃe Neonleuchten an der Decke, breite Treppen.
Langsam stieg sie in den vierten Stock empor. Links und rechts gingen die
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