Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
Vom Netzwerk:
Brief. Der Strahl der Taschenlampe wanderte über das Papier. Er seufzte tief, gab ihr das Kuvert zurück, und sie wartete gespannt, mit welchen Worten er reagieren würde. Statt etwas zu sagen, nahm er sie in den Arm. Im ersten Moment widersetzte sie sich. Sie wollte reden. Sie wollte seine Meinung hören. Sie wollte all die Gedanken loswerden, die sich in den vergangenen Stunden angesammelt hatten. Dann spürte sie, wie ihr Körper entspannte, wie ihr Kopf von seiner Schulter auf seinen Schoß glitt. Wie sie erschlaffte und jeden Widerstand aufgab. Die Tränen in ihren Augen. Die Essenz der Trauer. Alte, ungeweinte Tränen. Fett und hässlich. Die bitter schmeckten wie kalter, abgestandener Tee. Die sich aus ihr herausquälten wie dicker Eiter aus einer alten Wunde. Damals war Damals. Heute ist Heute. Wie viel Kraft es kostete, das auseinander zu halten. Damals und Heute. Wie zwei Farben, die danach strebten, sich zu vermischen. Sobald die Kraft nachließ, gelang es ihnen: Damals ist Heute. Heute ist Damals.
    Sie fühlte seine Hand in ihrem Haar, sie hörte seine Stimme, die etwas flüsterte, was sie nicht verstand. Es war egal, der Zuspruch, der darin lag, war ihr genug. Ein Un-Leben hatten sie geführt. Mama und Mei-mei. Ungehört. Ungetröstet. Ungestreichelt.
    Sie grub ihren Kopf noch tiefer in seinen Schoß. So wollte sie verharren, bis er aufstehen, sie hoch in seine Arme nehmen und wie ein schlafendes Kind in sein Haus tragen würde. Ins Bett legen. Zudecken. Das Licht löschen.

    Den alten, bitteren Tränen folgten junge. Sie schmeckten anders. Leichter, frischer, wie salziges Wasser. Taten weniger weh.
    Dann versiegten auch die. Christine lag ruhig da, lauschte ihrem Atem.
    Er beugte sich über sie und machte mit der Taschenlampe für einen Moment Licht.
    Â»Ich dachte, du bist eingeschlafen.«
    Â»Wäre ich auch fast«, antwortete sie und richtete sich auf.
    Â»Hast du seine Tochter schon angerufen?«
    Christine schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
    Â»Warum tust du dich mit der Entscheidung so schwer? Hast du noch nicht zusammengerechnet?« Sein Ton verriet ein Lächeln, das sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
    Â»Sei nicht so frech«, antwortete sie und kniff ihn in den Bauch, um zu zeigen, dass sie die Anspielung verstanden hatte.
    Entscheidungen zu treffen oder vielmehr die Geschwindigkeit, mit der Paul und sie Entscheidungen fällten, war einer der Punkte, an denen sie häufiger in Streit gerieten. Paul war in ihren Augen ein Zauderer, ein Zögernder. Ein Mensch, der bedachte, schwankte, mit sich rang, fortwährend versuchte, die Dinge von allen Seiten zu betrachten. Er selbst nannte sich einen »Abwäger aus Leidenschaft«. Wir sind die Summe unserer Entscheidungen, sagte er, deshalb waren ihm Menschen suspekt, die immer gleich wussten, was sie wollten. Die sofort zu allem eine Meinung hatten.
    Ihr auch. Aber Unschlüssigkeit war für sie nicht gleichbedeutend mit Charakterstärke. Einmal war sie mit ihm in Hongkong in einem großen Supermarkt einkaufen gewesen und dabei fast wahnsinnig geworden. Joghurts aus Japan, Australien,
Neuseeland, Hongkong und Deutschland. In vier unterschiedlichen Fettstufen. Sechs verschiedene Sorten Camembert aus drei verschiedenen Ländern, einfaches Mineralwasser von vier Kontinenten. Die Hölle für Paul Leibovitz. Die Auswahl war so groß, dass sie nach einer halben Stunde den Laden mit leeren Händen verließen und später auf Lamma einkauften. Dort war für ihn das Leben einfacher: Joghurts aus Hongkong. Zwei Geschmacksrichtungen, eine Fettstufe.
    Sie hatte mehrmals versucht, ihn zu überzeugen, dass die meisten dieser alltäglichen Entscheidungen unwichtig waren und es deshalb keinen Sinn machte, darüber lange nachzudenken. Bei den wichtigen Dingen nahm Christine ein Blatt Papier und machte Plus- und Minus-Listen. Was sprach dafür, was dagegen? Vor- und Nachteile. Alles untereinander schreiben, am Ende wird ein Strich gezogen und zusammengerechnet. Die Frage war immer: Was wird mich das kosten? Haben und Soll, eine einfache Rechnung. Sobald sie die Antwort kalkuliert hatte, fiel die Entscheidung von allein.
    Paul fand das idiotisch. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben entzögen sich den Kategorien von Plus oder Minus. Sie seien immer Plus und Minus und nicht eindeutig zuzuordnen.
    Sie widersprach.

Weitere Kostenlose Bücher