Drachenspiele - Roman
Ich weià es nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich machen würde.«
»Wenn du siehst, wie in Hongkong jemand Gift in ein Trinkwasserreservoir kippt, würdest du mit Sicherheit etwas unternehmen, oder nicht?«
»Ja, in Hongkong. Ich weià aber nicht, was ich in China machen würde. Zur Polizei gehen? Mir einen Anwalt nehmen? Schweigen? Keine Ahnung. Bist du dir da ganz sicher?« Sie spürte schon wieder einen Brechreiz in sich aufsteigen.
»Ja«, antwortete er trotzig.
Christine fragte sich, ob er das ernst meinte. Sie kannte ihn nicht als einen zornigen, selbstgerechten Menschen. »Wirklich?«, erwiderte sie erstaunt. Die Ãbelkeit wurde schlimmer. Bloà nicht aufs Sofa spucken.
»Nein, natürlich nicht«, stieà Paul hervor. »Für wen hältst du mich? Aber so weit sind wir ja noch gar nicht. Ich wollte nur versuchen, möglichst viele Fakten zusammenzutragen, damit wir wissen, woran wir sind. Dann können wir immer noch entscheiden, ob wir die Behörden einschalten, einen Anwalt, oder ob wir gar nichts unternehmen. Selbst daran haben sie kein Interesse. Ich kann es nicht verstehen.« Er klang jetzt leise, zweifelnd, fast resigniert.
Christine hielt es nicht mehr lange aus und stand auf. »Es ist nicht deine Aufgabe, dich da weiter einzumischen. Erinnere
dich an die Geschichte mit Michael Owen. Da hast du Glück gehabt. Es hätte auch anders ausgehen können. Und dein Freund Zhang, der Einzige, der dir damals geholfen hat und vielleicht auch jetzt helfen könnte, sitzt in Shenzhen. Das ist weit weg.«
»Ich weië, antwortete er verzagt.
»Wann kommst du zurück? Ich vermisse dich«, flüsterte sie, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie schlecht es ihr plötzlich ging.
»Sobald ich einen Flug bekomme. Ich hoffe, morgen, spätestens am Sonnabend.«
»Pass auf dich auf. Mach keine Dummheiten, versprochen?« Sie ging mit dem Telefon Richtung Badezimmer. Konnte sie das Gespräch beenden, bevor sie sich übergab, ohne dass er Verdacht schöpfte? »Jetzt schlaf gut. Ich liebe dich.« Sie hob den Klodeckel.
»Ich dich auch. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Sie drückte die rote Taste und spürte im selben Moment, wie der Reis und das Gemüse in einem Schwall aus ihr herausschossen.
XI
Yin-Yin schloss vorsichtig die Wohnungstür auf und schlich hinein. Ihre Mitbewohnerin schlief bereits, sie hörte das leichte Schnarchen der erkälteten Lu durch die angelehnte Tür. Yin-Yin ging in ihr Zimmer und öffnete die Fenster. Warme Frühsommerluft strömte hinein, es roch nach gebratenem Knoblauch und Zwiebeln, irgendjemand bereitete noch ein Essen am späten Abend zu. Es verging kein Tag, an dem sie sich nicht über die Wohnung freute, die sie seit einem halben Jahr mit Lu teilte. Sie lag in einer Lilong-Siedlung im oberen Stock eines zweistöckigen Hauses, dessen Architekt von Art déco schon einmal etwas gehört haben musste. In dem Viertel herrschte eine fast dörfliche Atmosphäre, Nachbarn kannten sich, in den Gassen spielten Kinder Federball oder Basketball, die Alten saÃen vor den Häusern und unterhielten sich, am Morgen weckte Yin-Yin der Gesang von Vögeln. Jetzt vernahm sie von drauÃen das Brummen der Klimaanlagen, die gedämpften Stimmen der Nachbarn nebenan und von unten das unterdrückte Stöhnen von Frau Teng, die sich, wie fast jeden Abend um diese Zeit, mit ihrem Mann vergnügte. Unter allen Geräuschen lag wie ein Teppich das monotone Rauschen der GroÃstadt, das in den Stunden nach Mitternacht zwar stiller wurde, aber nie ganz versiegte, und Yin-Yin oft in den Schlaf half.
Sie holte das Cheongsam aus ihrer Tasche, hängte das Kleid auf einen Bügel und strich es glatt; sie zog sich aus, sah dabei in den Spiegel und erschrak. Sie war immer froh gewesen, nicht zu den hageren Frauen zu gehören, sie mochte die Proportionen ihres Körpers, Brüste und Po waren nicht zu übersehen, doch jetzt stachen die Hüftknochen hervor, ihre Beine waren dürr, selbst der vor kurzem noch feste Busen war kleiner geworden und hatte ein wenig zu hängen begonnen.
Yin-Yin setzte sich aufs Bett, umschlang ihre Knie, blickte in den silberweià erleuchteten Nachthimmel und war froh, allein zu sein. Sebastian hatte mitkommen wollen, doch sie hatte heute Abend weder Lust, mit ihm zu schlafen, noch sich einen Vortrag übers Chinas
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