Drachenspiele - Roman
Rechtssystem oder die Naivität von Menschen wie Leibovitz anzuhören. Wenn sie etwas an ihm störte, war es seine Art, alles bis ins letzte Detail zu analysieren und zu diskutieren. Jedes Gefühl hatte einen Namen, jeder Gedanke musste in Worte gefasst werden. Er hörte nicht auf, bis er glaubte, dass sie einer Meinung waren, und merkte dabei nicht, dass sie immer häufiger nachgab, weil sie seines Dozierens überdrüssig war, weil sie ihre Ruhe haben wollte. Er war ihr erster Freund, der nicht aus China kam, und sie fragte sich, ob die Geschwätzigkeit typisch für ihn war, oder ob alle Menschen aus dem Westen den Worten eine solche Bedeutung beimaÃen.
Heute Nacht musste sie, um ihre Gedanken ordnen zu können, für sich sein.
Yin-Yin empfand eine groÃe Erleichterung, das Konzert überstanden zu haben. Vor einem halben Jahr hatte sie mit den Planungen begonnen, es war als eine Art Ehrung für ihre Eltern gedacht gewesen, vor allem für ihre Mutter, die in ihrer Schule jede bezahlte Extraarbeit angenommen hatte, um das Studium der Tochter zu finanzieren, die sie immer wieder ermutigte, es als Violinistin zu versuchen, ohne sie je zu drängen. Die sie lehrte, an sich zu glauben, die sie genug liebte, um sie gehen zu lassen. Ihre Eltern hatten zum ersten Mal seit Jahren wieder nach Shanghai kommen wollen. Bei den Anfangstönen hatten ihre Hände gezittert, der Strich des Bogens war fahrig gewesen, sie hatte kurz die Augen geschlossen, aber keine Noten, sondern das Gesicht ihrer Mutter gesehen. Die verformten Hände, den leeren Blick an die
Decke. Nur die unheimliche Kraft der Musik hatte sie zurückgeholt, Mozarts und dann Beethovens Tönen hatte sie sich anvertrauen können; sie hatten sie fortgetragen in eine Welt, in der die Krankheit ihrer Mutter keine Rolle spielte.
Sie dachte an das Gespräch mit Paul Leibovitz und ihrem Bruder. Seine Worte hatten sie getroffen, nicht weil sie falsch oder verletzend gewesen wären, sondern wegen der Kälte, die aus ihnen klang, auch wenn er es nicht so meinte. Hoffte sie jedenfalls. Ihr fiel das junge Kaninchen ein, das sie als Kinder einmal gefunden hatten. Es lag in einem Graben, war krank, konnte die Hinterläufe nicht mehr bewegen, ein todgeweihtes Tierchen, das in den nächsten Stunden, vielleicht Tagen, entweder verhungern oder Beute eines Raubtieres werden würde. Sie war erstarrt vor Schreck und Mitleid, er nahm einen Stein und schlug darauf ein. Er war nicht geübt im Töten. Es quiekte. Es zappelte. Sie wandte sich ab, unfähig, auch nur die Hand zu heben, er schlug weiter, bis die Gedärme aus dem Bäuchlein quollen und das Wesen sich nicht mehr bewegte.
Hinterher kotzte er aufs Feld.
Sie fand ihn grausam und ekelhaft, er fand sie feige. Er behauptete, das Kaninchen hätte ihm mindestens so leidgetan wie ihr. Genau deshalb habe er es von seinen Qualen erlöst. Was nützte Mitleid, wenn daraus keine Taten folgten?
Danach lag für lange Zeit ein Schatten auf ihrem Verhältnis, er war ihr ein wenig unheimlich geworden. Zwar sah sie ein, dass er in gewisser Weise Recht hatte, aber es gab etwas in ihr, das sich seiner kühlen Logik widersetzte, ohne dass sie dafür die richtigen Worte gefunden hätte.
Warum fiel ihr der Tag, an dem das Kaninchen starb, ausgerechnet jetzt ein? Ihr Bruder hing an Mama nicht weniger als sie, aber die Emotionslosigkeit, mit der er ihre Situation
analysiert hatte, erinnerte sie an jenen Nachmittag, Yin-Yin konnte den Gedanken nicht weiterdenken und spürte, dass ihr die Tränen kamen und sie nicht mehr die Kraft besaÃ, sich gegen ihre Trauer zu wehren. Seit Wochen war sie tapfer gewesen. War fast jedes Wochenende nach Hause gefahren. Hatte ihre Mutter gepflegt. Ihrem Vater Mut gemacht. Tränen unterdrückt. Sie vergrub ihren Kopf unter dem Kissen und weinte. Mama war fort. Nichts auf der Welt würde sie zurückbringen. Sie sehnte sich nach der Stimme ihrer Mutter. Die Vertrautheit, die Wärme, die darin lag. Ihr Geruch, ihr Lachen. Vergangen. Verloren für immer.
Als sie sich etwas beruhigt hatte, stand sie auf, streifte ein langes Unterhemd über, ging in die Küche und machte Tee. Sie hörte Pauls Worte: Eure Mutter ist vergiftet worden . Ein Satz wie aus einem Film. Sie sprach ihn in Gedanken mehrmals aus. Sagte ihn halblaut nach. Vergiftet. Nein, es war nicht so einfach, wie sie beim Thailänder getan hatten. War die
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