Drachenspiele - Roman
herauszupulen.
»Papa könnte nach Beijing fahren und eine Petition einreichen«, schlug seine Schwester mit zaghafter Stimme vor.
»Und wir könnten ihn anschlieÃend im Arbeitslager besuchen. GroÃartige Idee.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Hör auf damit. Lass uns lieber überlegen, wie wir Mama besser versorgen können. Papa kann das nicht.«
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Sie liefen schweigend die Fenyang Lu hoch, nahmen die Donghu Lu, die sie zur Changle Lu führte. In den kleinen StraÃen waren nur noch wenige Autos unterwegs, die Menschen saÃen in den Höfen und vor ihren Häusern und genossen
den milden Abend. Xiao Hu beobachtete zwei Alte, die auf winzigen Bambusstühlen hockten und Schach spielten, daneben fächerte sich eine grauhaarige Frau im Pyjama Luft zu. Mit scharfem Blick musterte sie jeden Passanten, Xiao Hu vermutete, dass sie früher im Auftrag der Behörden den ganzen Block überwacht hatte. An der nächsten Kreuzung flickte ein Mann mit ölverschmierten Händen einen Fahrradschlauch, neben ihm standen eine Kiste mit Werkzeugen und ein Eimer Wasser. In der Changle Lu verabschiedeten sie sich; Weidenfeller nahm ein Taxi, Yin-Yin ging allein nach Haus.
Xiao Hu blickte ihr nach, während sie zwischen den Platanen verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er machte sich Sorgen um seine Schwester. Mamas Krankheit hatte sie verändert, sie war noch blasser als sonst, hatte sehr stark abgenommen, und seit Wochen hatte er sie nicht mehr lachen sehen. Zwischen ihr und Weidenfeller gab es Spannungen, das hatte er bei ihren letzten Begegnungen gespürt und von beiden in den vergangenen Tagen bestätigt bekommen. Nun belastete sie auch noch das Gespräch mit Leibovitz. Es war Yin-Yin nahe gegangen, ihr Blick verriet es ihm, die harten Züge um ihren Mund, die immer flacher werdende Stimme. Sie konnte ihm nichts vormachen, dazu kannte er sie zu gut. Seine Argumente hatte sie zwar verstanden, aber nicht ganz akzeptiert, das zeigte ihm die Art, wie sie sich verabschiedet hatte. Kurz war sie gewesen, fast harsch. Es tat ihm leid, er hatte sie nicht verärgern wollen. Xiao Hu überlegte, ob er zu hart gewesen war, ob er sie morgen anrufen sollte und erklären, dass zwischen ihnen keine Welten lagen, auch wenn er herzlos und zynisch geklungen haben mochte. Sie durfte nicht glauben, dass es ihm nicht ganz ähnlich ging wie ihr. Sollte Sanlitun für Mamas Krankheit verantwortlich
sein, wäre er genauso empört wie seine Schwester. Es wäre ein Verbrechen, das bestraft gehört. Würden sie in Amerika leben, stünden die Anwälte Schlange, um eine Schadensersatzklage einzureichen. Nicht nur für Mama und Papa. Wenn Leibovitz Recht hatte, waren noch mehr Menschen im Dorf betroffen, vielleicht auch noch andere in der Umgebung. Es würde eine Sammelklage geben und Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe. Einen Aufschrei in den Medien. Die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. In Amerika. Nicht in China. Darüber konnten Yin-Yin und er wütend sein, enttäuscht und traurig, was immer sie wollten, ändern konnten sie es nicht. So einfach war es. Sich darüber aufzuregen war eine Verschwendung von Zeit und Energie. Und damit konnte man in Shanghai wahrlich Besseres anstellen. Das musste sie doch einsehen.
Am liebsten hätte er sie sofort angerufen und ihr versichert, dass sie im Grunde einer Meinung waren. Sie war nicht nur seine Schwester, sie war seine Freundin und engste Vertraute, er wollte unter keinen Umständen mit ihr über Mamas Krankheit in Streit geraten, aber die Uhr zeigte weit nach Mitternacht. Er würde sich morgen früh melden und sie zum Mittag- oder Abendessen einladen.
X
Christine war speiübel. Sie versuchte in Ruhe tief ein- und auszuatmen, am Telefon einem unverschämten Kunden geduldig zu erklären, warum es mit dem kostenlosen Upgrade in die Business Class nicht geklappt hatte, und gleichzeitig ihre Praktikantin durch Gesten darauf hinzuweisen, wo die Antragsformulare für die China-Visa lagen. Sie legte auf und hoffte, sie würde es bis zur Toilette schaffen. Sie musste sich am Regal mit den Reiseprospekten festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und es gelang ihr gerade noch, mit der Hacke die Tür zu schlieÃen, bevor sie sich in die Kloschüssel erbrach.
Seit Tagen plagte Christine diese hartnäckige Ãbelkeit, gepaart mit stechenden
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