Drachenspiele - Roman
Frage, wer daran schuld war, wirklich nur von Bedeutung, wenn Mama von der Antwort profitierte? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde Yin-Yin. AuÃerdem gab es noch einen zweiten Punkt, in dem sie anderer Meinung als ihr Bruder war: Warum sollte ihnen Sanlitun nicht helfen, wenn das Unternehmen tatsächlich die Krankheit von Mama, Frau Ma und Frau Zhuo verursacht hatte? Es bedurfte keiner groÃen Summen, um eine bessere Pflege zu ermöglichen. Um eine Entschädigung zu bitten war kein Verbrechen, mehr als nein sagen konnten sie nicht.
Sie überlegte, ob sie Leibovitz anrufen sollte. Er war ihr an den beiden Tagen in Yiwu sympathisch geworden, sie war ihm dankbar, dass er bei ihrem Vater geblieben war, und hatte sich gefreut, als er gestern anrief und die Einladung zu ihrem Konzert annahm. Es tat ihr leid, dass sie ihn im Restaurant
verärgert hatten, aber mit was für einer Reaktion mochte er gerechnet haben? Einfach Dankbarkeit, weil er sich so engagierte? Für so naiv hielt sie ihn nicht.
Es war kurz vor drei Uhr, als sie zum Telefon griff.
»Leibovitz.« Seine Stimme klang nicht, als hätte sie ihn geweckt.
»Entschuldige, dass ich mitten in der Nacht störe, aber ich hatte Angst, dass du morgen einen frühen Flug nach Hongkong nimmst.«
»Das habe ich auch vor«, antwortete er kühl.
»Ich habe über unser Gespräch nachgedacht und wollte fragen, ob du vielleicht heute für einen Tag mit mir zu meinen Eltern nach Yiwu kommst.«
»Wozu?« Seine Verärgerung hatte sich nicht gelegt, und er gab sich keine Mühe, sie zu überspielen.
»Um mit meinem Vater zu reden. Ich weià nicht, ob er mir glaubt und wie er reagieren wird, und du kannst ihm die Dinge besser erklären und auÃerdem...« Sie zögerte.
»AuÃerdem?«
»AuÃerdem dachte ich, wir könnten uns, wenn noch Zeit bleibt, im Dorf einmal umhören, wer in den vergangenen Monaten alles krank geworden ist.«
»Yin-Yin, egal was wir herausfinden, es wird deine Mutter nicht wieder gesund machen.«
»Ich weiÃ.«
»Etwas anderes interessiert euch nicht, habt ihr gesagt.«
War er gekränkt oder selbstgerecht? »Nimmst du uns das übel?«, entgegnete sie ärgerlich. »Wir denken zuerst an uns und unsere Mutter. Ist das verwerflich?«
»Wenn ich Recht habe, geht es aber nicht nur um eure Familie.«
Yin-Yin spürte, dass Ãrger in ihr aufstieg. »Bist du dir so
sicher, dass du dich an unserer Stelle anders verhalten würdest?«
Er schwieg.
»Du hast kein Recht, uns Vorwürfe zu machen.«
Noch immer keine Antwort.
»Ich sage dir ganz ehrlich: Ich will keinen Umweltskandal aufdecken, selbst wenn ich es könnte. Ich möchte mich nicht mit einem groÃen Chemiekonzern streiten. Sollte deine Vermutung stimmen, hoffe ich einfach, dass die Behörden den See absperren und Sanlitun uns freiwillig, ohne Gerichtsverfahren, eine kleine Entschädigung zahlt. Das würde das Leben meiner Eltern um einiges erleichtern. Der Rest interessiert mich nicht.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie ihre Frage wiederholte: »Kommst du morgen mit oder nicht?«
»Ja.«
Â
Als Yin-Yin im Morgengrauen erwachte, war sie für einige Sekunden nicht sicher, ob sie das Gespräch mit Paul nur geträumt oder tatsächlich geführt hatte. Gleich drauf spürte sie das wilde Pochen in ihrem Kopf. Ein schlechtes Zeichen. Diese Art von Schmerzen hatte sie nur bei extremer Müdigkeit oder Anspannung. War es richtig, was sie tat? Ihr Bruder würde stocksauer sein und tagelang nicht mit ihr reden. Es gab noch nicht viele Situationen, in denen sie sich gegen seinen Rat verhalten, sich einfach darüber hinweggesetzt hat. Auch Johann Sebastian würde verärgert sein. Machte es wirklich Sinn, was sie vorhatte? Was war in der Nacht nur in sie gefahren? Am liebsten hätte sie die Fahrt wieder abgesagt, aber ein solcher Gesichtsverlust Paul Leibovitz gegenüber wäre ihr peinlich gewesen. Sie musste ohnehin zu ihrem Vater, und bei dem Gespräch würde er ihr eine groÃe Hilfe sein. Den Rest wollte sie abwarten.
Paul hatte einen Fahrer mit Wagen organisiert, sie trafen sich um kurz nach neun Uhr vor dem Hilton Hotel an der Yanan Xi Lu und nahmen von dort die Autobahn Richtung Yiwu. Auch ihm sah man an, dass er nur wenig geschlafen hatte, Schatten lagen unter seinen Augen, und er
Weitere Kostenlose Bücher