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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Anpassungsfähigkeit übersteigen.
    Â»Mama?« Ihre Mutter hörte sie nicht. Sie war vertieft in eine Welt aus Intrigen, Eifersucht und Rache am Hof der Mings, und Christine fehlte die Kraft, ihre Stimme zu erheben. Sie brachte es auch heute nicht fertig, von Da Long und ihrer Fahrt nach Shanghai zu erzählen. Sie solle sich schonen,
hatte der Arzt gesagt. Weniger arbeiten, keine Aufregung, mehr Ruhe, in zwei Tagen hätte er die Blutergebnisse, dann wisse er mehr. Ein Gespräch mit ihrer Mutter über ihren Bruder wäre das Gegenteil von dem, was sie jetzt gebrauchen konnte. Die Fragen ihrer Mutter. Die Tränen, geweint oder ungeweint. Ein schwarzer Rabe, der nicht fliegen konnte, und das Rätsel, warum Mama nicht nach Da Long gesucht hatte. Sie fühlte sich im Moment nicht stark genug, Familiengeheimnisse zu ergründen. Das hatte keine Eile. Nicht nach vierzig Jahren.
    Pauls Anruf weckte sie auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher. Es war kurz vor Mitternacht, er klang aufgebracht, sie brauchte einige Zeit, bis sie seinen Erzählungen folgen konnte. Tote Fische und Katzen. Japan, Minamata, Quecksilber. Ihre Schwägerin soll vergiftet worden sein. Sie richtete sich auf und schaltete den Fernseher aus.
    Â»Ist es nicht möglich, dass das Labor einen Fehler gemacht hat?«, fragte sie ungläubig.
    Â»Das kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Paul.
    Â»Du bist in Shanghai, vergiss das nicht. Wer weiß, ob die überhaupt die nötigen Geräte besitzen?«
    Â»Christine! Die haben hier den schnellsten Zug der Welt. Den höchsten Wolkenkratzer Chinas und was weiß der Himmel noch alles. Da werden sie ja wohl Quecksilber in Haaren nachweisen können. Außerdem ist das, soweit ich weiß, keine komplizierte Analyse«, widersprach er, ohne ihre Zweifel ausräumen zu können.
    Sie dachte angestrengt nach. »Wenn du Recht hast, würde das bedeuten, dass Min Fang geheilt werden könnte?«
    Â»Nein, zum Teufel!«, rief er so wütend, dass sie reflexartig den Hörer einige Zentimeter vom Ohr weg hielt. Derart aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt.

    Â»Entschuldigung, es war nur eine Frage«, entgegnete sie verärgert. »Warum regst du dich so auf?«
    Â»Weil deine Nichte und dein Neffe das auch wissen wollten. Weil sie die ganze Geschichte nicht mehr interessiert, nachdem sie erfahren haben, dass ihre Mutter davon nicht wieder gesund wird.«
    Â»Und was verstehst du daran nicht?«
    Sie hörte, wie Paul Luft holte, wie er antworten wollte und dann doch nur leise stöhnend ausatmete. Wie er sich sammelte, um sich nicht wieder im Ton zu vergreifen. »Wenn es stimmt, was ich vermute«, sagte er noch immer gereizt, »geht es nicht nur um Min Fang. In diesem Fall ist das ganze Dorf, sind vermutlich auch noch andere Dörfer gefährdet. Dann muss etwas getan werden.«
    Christine seufzte tief. Er war und blieb ein Westler, dachte sie, egal wie gut er Chinesisch sprach, wie lange er schon in Hongkong lebte, wie sehr er sich auch bemühte, chinesisches Denken und Handeln zu verstehen. Es gab beim Begreifen anderer Kulturen Grenzen, auch wenn Christine nicht genau wusste, wo die lagen, wer sie festlegte und ob sie statisch oder fließend waren. Die von Paul waren in diesem Fall offensichtlich erreicht. »Du kennst China und uns Chinesen doch so gut, wie kannst du dich darüber aufregen?«, fragte sie beschwichtigend. »Meine Mutter lebt seit über vierzig Jahren in Hongkong, und sie hat immer noch Angst vor den Behörden. Ich weiß nicht, was passieren müsste, bis sie zur Polizei gehen würde. Sie würde niemals jemanden verklagen, weil sie keinem Staatsanwalt, keinem Richter über den Weg traut. Vor einigen Monaten stand ein Polizist vor ihrer Tür, weil er eine harmlose Nachricht für ihre Nachbarn hatte. Sie hat Tage gebraucht, um sich von dem Schreck zu erholen. So tief sitzt die Angst vor allem, was wie staatliche Autoritäten
aussieht oder sich so gibt. Selbst bei jemandem, der über die Hälfte seines Lebens in Hongkong verbracht hat! Was erwartest du von Yin-Yin und, wie heißt ihr Bruder noch?«
    Â»Xiao Hu.« Paul schwieg lange. »Ich erwarte, dass sie nicht tatenlos zusehen, wie Menschen vergiftet werden. Ist das zu viel verlangt?«
    Er klang jetzt ruhiger, trotzdem irritierte sie die Selbstgewissheit, die aus seinen Worten sprach.
    Â»Nein. Oder vielleicht doch.

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