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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Handbewegung verscheuchte. Grelles Neonlicht beleuchtete die Obst- und Gemüsestände, die Teegeschäfte und Kioske. Es ließ die Gesichter der Verkäufer blass und kalt aussehen. Er kam an einem Massagesalon vorbei, in dem ein paar junge Frauen in pinkfarbenen Kleidern gelangweilt in einen Fernseher glotzten. Eine winkte ihm zu, er lächelte zurück. In einer Toreinfahrt hatte ein alter Mann einen Spiegel an die Mauer gehängt, einen Stuhl davor gestellt, auf einem Tischchen lagen Scheren, Kämme und Rasierer ordentlich sortiert, Zeitung lesend wartete er auf Kunden.
    Paul setzte sich vor eine Nudelsuppenküche, die Klapptische und Hocker auf dem Bürgersteig ausgebreitet hatte. Es roch köstlich nach Fleischbrühe, Koriander und Knoblauch, ein junger Mann fertigte aus einem grauweißen Klumpen Teig für jede Bestellung frische Nudeln an. Mit Hingabe knetete und formte er den Ballen, zog ihn wieder und wieder
in die Länge, bis er eine Hand voll Spaghetti hatte und die mit einem Sieb in heißem Wasser schwenkte. Vor seinen Füßen hockten zwei junge Frauen aus dem Restaurant nebenan, sie wuschen Fisch im Rinnstein und redeten und lachten so laut durcheinander, dass Paul nur Bruchstücke verstand.
    Die Suppe schmeckte wunderbar, scharf und kräftig, nach Lamm und Gemüse, und als er es dem Koch zurief, grinste der verlegen zurück. Das verschämte Lächeln eines Menschen, für den Lob ein seltener Luxus war.
    Das Leben, das Paul umgab, vertrieb auf wundersame Weise seine Müdigkeit, er verspürte große Lust, spazieren zu gehen, zahlte, stand auf und tauchte ein in diese Welt aus Gassen, Hinterhöfen und Platanenalleen, in der nasse Unterhosen, Strümpfe und Hemden auf Wäscheleinen über den Straßen hingen und auf Passanten tropften; in der es an jeder Ecke nach Essen duftete; in der er bis vor die Häuser das Rülpsen und Furzen der Satten hörte, das Gezänk der Streitenden, das Schnarchen der Ruhenden. Das Flüstern der Liebenden.
    Je länger er sich treiben ließ, desto besser gefiel es ihm. Aus dem blassen, eintönigen Shanghai seiner Erinnerung, in dem alle Menschen Fahrrad fuhren und die gleichen grauen oder blauen Mao-Anzüge trugen, war eine ruhelose, gierige Stadt geworden, bevölkert von Suchenden, Rastlosen, Getriebenen. Voller nervöser Energie und voller Mut. Von Menschen, die ihr Dorf, ihre Stadt verlassen hatten, verführt von der Hoffnung, dass hier ein besseres Leben auf sie wartete. Shanghai erinnerte ihn an das New York seiner Jugend. Oder an jenes Hongkong, in das er sich in den siebziger Jahren verliebt hatte, bevor die Stadt ihr Gesicht verlor und sich in eine spiegelverglaste, wohltemperierte Klimazone verwandelte, in der es nur noch nach Abgasen roch statt nach Menschen.

    Â»Liebeshungrig« hatte ihn Christine vor zwei Wochen genannt. Vielleicht, dachte er, hatte sie das Richtige gemeint, aber das falsche Wort gewählt. Vielleicht wäre nach den Jahren der Isolation auf Lamma »lebenshungrig« treffender gewesen.
    Â 
    Im Hotel rief er als Erstes Christine an. Es war ihm in den vergangenen Tagen zunehmend schwerer gefallen, ihren Ärger und ihre Irritation über die mehrfache Verzögerung seiner Rückkehr nach Hongkong zu zerstreuen. Von den Testergebnissen und seinem Verdacht hatte sie am Donnerstag nicht viel wissen wollen, gestern hatte er ihr etwas von Gesprächen mit Ärzten in Shanghai erzählt und dass es unter Umständen noch Hoffnung gäbe für Min Fang und dass ihr Bruder ihn gebeten hätte, noch einige Tage zu bleiben.
    Er merkte ihr sofort an, dass etwas nicht stimmte.
    Â»Geht es dir nicht gut?«
    Â»Nein«, erwiderte sie matt. »Ich bin krank.«
    Â»Was hast du?« Er bemühte sich, ruhig zu bleiben.
    Â»Ich hab mich die ganze Nacht übergeben und fühle mich unendlich erschöpft. Seit Tagen schon.«
    Â»Warst du beim Arzt?«
    Â»Ja, gestern und vorhin noch einmal.«
    Â»Davon hast du mir gar nichts erzählt«, sagte er vorwurfsvoll.
    Â»Ich wollte dir keine Angst machen«, antwortete Christine und schwieg.
    Warum sprach sie nicht weiter? »Weshalb verrätst du mir nicht, was er gesagt hat?«
    Â»Er … er …«
    Ihr Stottern machte ihn wahnsinnig. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen.

    Â»Christine«, rief er. »Nun sag schon.«
    Â»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.

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