Drachenspiele - Roman
sechsunddreiÃig Stunden, in denen sie praktisch jede Minute zusammen verbracht hatten. Ihr erschüttertes Gesicht, als sie von dem toten Kind ihrer Jugendfreundin erzählte. Ihr Lachen, als Wang, der Klassenclown behauptete, Paul sei zu alt für sie. Die zitternde Yin-Yin, die in ihrem Hotelzimmer nicht allein bleiben wollte. Er fühlte sich ihr nah, als würden sie sich schon viele Jahre kennen, und fragte sich, ob es ihr wohl ähnlich ging. Er wollte sie beschützen, hätte sie gern in den Arm genommen, doch die Angst, sie könnte diese Geste falsch verstehen, hielt ihn zurück.
»Hast du Lust, noch einen Tee bei mir zu trinken?«, fragte sie ganz plötzlich, während der Fahrer in die Changle Lu einbog. Als hätte sie seine Gedanken erraten.
»Gern.« Er war nicht sicher, ob das eine gute Idee war.
Der Wagen setzte sie an der Ecke zur Fumin Lu ab, Yin-Yin kaufte noch eine Pomelo, Bananen und eine Packung Wassermelonenkerne und führte ihn durch ein Labyrinth von Hinterhöfen und Gassen zu ihrer Wohnung. Sie lag in der oberen Etage eines zweistöckigen Hauses aus den zwanziger Jahren, war klein und, wie Paul fand, für zwei junge Frauen von erstaunlicher Unordnung. Im winzigen Flur lagen Zeitungen auf dem FuÃboden verstreut, auf einem Wäscheständer hingen Socken und T-Shirts, darauf stand ein Teller mit Nudelresten.
»Entschuldige, Lu, meine Mitbewohnerin, nimmt es mit der Ordnung nicht so genau. Sie macht mich wahnsinnig«, erklärte Yin-Yin, lotste ihn in ihr Zimmer, öffnete die Fenster und verschwand in der Küche, um Tee zu bereiten.
In dem Raum war Platz für ein ungemachtes Bett, einen kleinen Schreibtisch, auf dem ein Haufen Zettel, Bücher und Modemagazine lagen, ein Regal und einen Notenständer, an dem der Geigenkasten lehnte. Unter der Decke war eine Leine gespannt, daran hing auf einem Bügel das wunderschöne Cheongsam. Auf dem einzigen Stuhl stapelten sich ein Kleid und mehrere Blusen, er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden. Je länger Paul das Chaos betrachtete, desto besser gefiel es ihm, vor fünfundzwanzig Jahren hatte es in seinen Zimmern ähnlich ausgesehen. Er hörte Yin-Yin in der Küche hantieren. Aus einer Nachbarwohnung vernahm er das Geklapper von Mahjongsteinen, von weitem klang ein monotoner Singsang herüber, ein Altpapierhändler, der durch die Gassen zog. Ihm folgte ein Scherenschleifer, der laut um Aufmerksamkeit warb. Welch ein Kontrast zu der Ruhe, die ihn auf Lamma umgab. Wie konnte es sein, dass er sie weder jetzt noch in den vergangenen Tagen vermisst hatte?
Yin-Yin kam mit dem Tee, setzte sich Paul gegenüber aufs Bett und musterte ihn lange mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte. Paul konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit einer Frau allein in ihrer Wohnung gewesen war, und spürte, wie ihn eine innere Unruhe beschlich. Das Gefühl, hier nicht hinzugehören und trotzdem nicht gehen zu wollen.
»Schöne Wohnung«, sagte er, um die Stille zu durchbrechen. Er, der Schweigen sonst so gut ertrug.
Sie lächelte. Ahnte sie, woher seine Unruhe rührte?
»Du bist ein seltsamer Mensch«, sagte sie.
»Was heiÃt seltsam?«
»Ungewöhnlich.«
»Ist das ein Kompliment?«, fragte er geschmeichelt zurück.
»Eher eine Feststellung.«
»Wie kommst du darauf?« Eine Spur von Enttäuschung lag in seiner Stimme.
»Ich weià nicht. So wie du meinem Vater begegnest. Wie du unsere Sprache sprichst. Wie du uns hilfst. Wie du angezogen bist. Die meisten Ausländer, die ich kenne, laufen in Anzügen herum und sind in China, um Geschäfte zu machen. Was machst du hier? Was versprichst du dir davon, dass du dich so mit der Ursache von Mamas Krankheit beschäftigst?«
»Gute Frage, schwer zu beantworten.«
»Versuchâs.«
»Ich mag deinen Vater.«
»Das reicht nicht«, entschied sie mit einem Lächeln.
»Ich finde ihn unendlich tapfer. Wie er sich um eure Mutter kümmert. Seine Hingabe, die Ruhe, die er dabei ausstrahlt. Er hat mir nicht nur leidgetan, er hat mich beeindruckt. Ich möchte ihm helfen. Das ist alles.«
»Das glaube ich nicht. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Das ist im Westen doch auch so, oder?«
»Bei mir nicht. Das ist das Ungewöhnliche an mir«, antwortete er und hoffte, sie würde den ironischen Unterton erkennen. Yin-Yin verstand
Weitere Kostenlose Bücher