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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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vorhast: Du willst vor Gericht ziehen! Du willst die Schuldigen bestraft sehen! Mein geliebter Da Long, was ist nur in dich gefahren? Hat dich die Trauer um den Verstand gebracht? Hast du vergessen, wo wir leben? Wenn ich doch nur meine Sprache wiederfände. Und sei es nur für eine Stunde, um dich zur Vernunft zu bringen. Yin-Yin hat Recht. Xiao Hu hat Recht. Kein Richterspruch macht mich wieder gesund. Außerdem kannst du ohnehin nicht gewinnen. Wir konnten noch nie gewinnen. Wir konnten uns gemein machen. Das wollten wir nicht. Wir konnten sie täuschen, wir konnten sie überlisten, wir konnten versuchen, uns davonzuschleichen. Gewinnen konnten wir nie.
    Wir sind ein Volk, das unter Gedächtnisschwund leidet. Das sich nicht erinnern will. Das sich nicht erinnern darf. Ein Land ohne Vergangenheit oder nur mit einer Vergangenheit, die so weit zurückliegt, dass niemand mehr für die Fehler, das Leiden, den Tod
in dieser Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen werden muss. Die so weit zurückliegt, dass wir uns alle der Illusion hingeben, dass sie nicht mehr wehtut. Ein Land, das nur die Gegenwart kennt. Und die Zukunft. Ein Land, in dem diese Zukunft nichts mit der Vergangenheit zu tun haben will. Als ob wir nicht alle auf den Schultern unserer Ahnen stünden. Als ob ein Baum keine Wurzeln bräuchte.
    Wer interessiert sich heute für einen vergifteten See?
    Für eine alte, nutzlose Frau?
    Für ein Dorf, in dem Kinder als Krüppel zur Welt kommen?
    Wer die Menschen kennt, der ist klug;
Wer sich selber kennt, ist erleuchtet;
Wer andere Menschen besiegt, hat Gewalt;
Wer sich selbst besiegt, der ist stark.
    Mein geliebter Da Long. Sei stark und besiege dich selbst. Besiege dein Verlangen nach Strafe. Nach Sühne. Nach Einsicht. Nach Gerechtigkeit. Ich weiß, so hat Lao Tse seine Worte nicht gemeint. Heute kann ich sie für dich nicht anders interpretieren. Wer das Unmögliche anstrebt, ist ein Tor, der nur Unheil anrichtet.
    Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, ich spüre es. Meine Kräfte schwinden. Was bin ich wandermüde - ist dies etwa der Tod? Wie gern hätte ich diese Zeilen einmal in meinem Leben gesungen. Ich habe sie zu spät entdeckt. Ich durfte sie nicht früher hören. Wie so vieles. Was haben sie uns alles vorenthalten. Was mussten wir für einen Unsinn singen, lesen, hören und sagen. Wie sie uns belogen haben. Wie sie das Kostbarste, das wir ihnen geben konnten, unser Vertrauen, missbraucht haben. Ist dafür je ein Mensch bestraft worden? Und nun willst du Gerechtigkeit für deine kranke Frau?

XIII
    Sie hatten den Stadtrand von Shanghai erreicht, als Paul die Visitenkarte und die Papierserviette aus seiner Tasche zog und noch einmal die Nummern verglich. Sie waren identisch, erst jetzt fiel ihm auf, dass es eine singapurische Vorwahl war. Er nahm Yin-Yins Mobiltelefon und drückte zögernd die Zahlen.
    Â»Hallo?«
    Â»Hier ist Paul Leibovitz.«
    Â»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Nummer?«
    Es war eine dieser Stimmen, bei denen Paul am liebsten gleich wieder aufgelegt hätte. Schneidend. Aggressiv.
    Â»Ich habe sie von Gao Jintao in Yiwu.«
    Â»O.K. Was wollen Sie?«, herrschte die Stimme zurück.
    Â»Ich brauche einen Termin bei Ihnen. So schnell wie möglich, es sei denn, ich muss dafür nach Singapur fliegen.«
    Stille.
    Â»Wo sind Sie jetzt?«
    Jede Frage klang wie ein Befehl. Paul schüttelte sich. »Im Wagen. Auf dem Weg nach Shanghai.«
    Â»Können Sie morgen früh um zehn Uhr in meinem Büro sein?«
    Â»Ja. Wo?«
    Â»Am Bund, Nummer 2. In dem Haus war früher der Shanghai Club.«
    Â»Wir kommen zu zweit.«
    Â»Kein Problem. Seien Sie pünktlich. Ich habe nicht viel Zeit.«
    Paul gab Yin-Yin ihr Telefon zurück, sie steckte es weg, schaute ihm kurz in die Augen, ohne etwas zu sagen, sank zurück in ihren Sitz und blickte aus dem Fenster. Er beobachtete sie von der Seite. Eine Strähne war ihr ins Gesicht
gefallen, den Rest der Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden und mit einem Stäbchen hochgesteckt. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie jung sie war. In ihrem Gesicht lagen, trotz ihrer Müdigkeit, noch keine Falten, weder um den Mund noch um die Augen. Ihr Körper war der einer jungen, sehr schönen Frau, die seine Tochter sein könnte. Sie sah erschöpft aus, fragil, die Melancholie in ihrem Blick rührte ihn. Paul dachte an die vergangenen

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