Drachenspiele - Roman
Ich soll mich schonen. Ich bin überarbeitet. Mehr nicht.«
»Hat er dir Blut abgenommen?«
»Selbstverständlich.«
»Sind die Werte in Ordnung?«
»Ja, Paul. Alles normal.«
»Hast du irgendwo am Körper blaue Flecken?« Bei Justin hatte er sie gesehen, ihnen jedoch keine Beachtung geschenkt. Blaue Flecken bei einem Jungen. Na und? Vorboten des Todes waren es gewesen.
»Nein.«
»Nasenbluten?«
»Nein. Bitte, bitte, mach dir keine Sorgen. Es wird Zeit, dass du wiederkommst«, sagte sie ohne Vorwurf in der Stimme.
»Ich weiÃ. Montagmorgen. Mit der ersten Maschine.«
»Sicher?«
»Versprochen.«
»Ich brauche dich.«
»Ich dich auch.«
Ein Rest Argwohn blieb.
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Yin-Yin holte ihn im Hotel ab, sie hatte ihm zwei kleine Geschenke mitgebracht, eine Dose besten grünen Tee und ihre Einspielung von Schuberts Streichquintett. Sie war ausgeschlafen, guter Stimmung und freute sich offensichtlich, ihn zu sehen.
Sie überquerten den Suzhou Creek und liefen den Bund hinunter, am anderen Ende lag das Büro von Chen.
Nach zwanzig Minuten standen sie vor der Hausnummer 2, einem weiÃen neoklassizistischen Gebäude aus den
ersten Jahren des vergangenen Jahrhunderts, das früher zu den vornehmsten Adressen Shanghais gehört hatte. Ein dezentes Messingschild neben dem Eingang. Sie stiegen die Treppen in den dritten Stock hoch, Rechtsanwalt Chen öffnete ihnen selbst die Tür. Er war so groà wie Paul, aber kräftiger, eine imposante Erscheinung, die Paul eher an der Wall Street vermutet hätte als in China. Chen sah aus, als würde er viele Stunden im Fitness-Studio verbringen, trug einen eleganten dunklen Anzug, weiÃes Hemd, schwarze Schuhe und eine randlose Brille.
Er führte sie durch einen langen Flur an einer Zimmerflucht vorbei; es war Sonntag und auÃer ihnen befand sich niemand in der Kanzlei. Von seinem Büro aus hatten sie einen beeindruckenden Blick über den Fluss, die Einrichtung erinnerte Paul an die eines britischen Advokaten, den er in Hongkong einmal aufgesucht hatte: dunkler, schwerer Mahagonischreibtisch, Ledersessel, eine Sitzecke mit zwei englischen Ledersofas. Sie setzten sich, ohne dass er ihnen etwas anbot.
»So, so, Gao schickt Sie. Wie geht es ihm?«
Yin-Yin schwieg. Sie hatten vereinbart, dass Paul die Geschichte erzählen und das Gespräch zunächst führen sollte, aber auch er tat sich mit einer Antwort schwer. Wenn man ihm gegenübersaÃ, wirkte Chen weniger aggressiv, seine Stimme hatte ihren herrischen Ton verloren, trotzdem konnte Paul ihn schlecht einschätzen. Er vermutete, dass Chen keine Fragen stellte, ohne sich etwas dabei zu denken, sie mit ihnen möglicherweise testen oder in eine Falle locken wollte; jede Erwiderung musste wohl überlegt sein.
»Soweit wir das beurteilen konnten, ganz gut«, antwortete Paul ausweichend.
»Läuft er noch barfuà durch sein Büro?«
»Ja.«
»Woher kennen Sie ihn?«
»Ein guter Freund hat ihn uns empfohlen.«
»Und er hat Sie zu mir geschickt, weil â¦Â«, Chen wartete darauf, dass Paul den Satz beendete.
»⦠weil er glaubt, dass nur Sie uns helfen können. Zumindest hat er das gesagt.«
»Das muss ja ein interessanter Fall sein. Worum geht es denn?«
Paul hatte kaum die Wörter »Sanlitun« und »Quecksilber« ausgesprochen, als ihm Chen abrupt ins Wort fiel. »Was halten Sie von einem Spaziergang auf dem Bund?«, sagte er und erhob sich im selben Moment. »Lassen Sie Ihre Sachen und Mobiltelefone ruhig hier. Wir kommen später zurück ins Büro.«
Sie fuhren, ohne ein Wort zu wechseln, mit dem Fahrstuhl hinunter, überquerten den Bund und gingen am Wasser langsam Richtung Peace Hotel. Auf der Uferpromenade mischten sie sich zwischen Reisegruppen, die von ihren Leitern mit kleinen Fähnchen herumdirigiert wurden, und Eltern, die ihren Kindern mit stolzen Gesichtern die Skyline Pudongs zeigten. Besucher vom Land, die an ihren Schuhen und der grauen Kleidung zu erkennen waren, posierten für Erinnerungsfotos mit den Hochhäusern im Hintergrund, dazwischen liefen junge Männer herum, die Plastikspielsachen, kandierte Früchte und Lotterielose feilboten. Einen besser geeigneten Ort für vertrauliche Gespräche gab es kaum.
Ein paar Schuten zogen gemächlich flussaufwärts, das Tuten einer Schiffsirene lieà Yin-Yin
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