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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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die Anspielung nicht, schüttelte kurz den Kopf, nippte an ihrem Tee.
    Â»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie nach einer Weile.
    Â»Ich könnte dein Vater sein.« Die Antwort alter Männer.
    Sie verdrehte die Augen. »Danach habe ich nicht gefragt.«

    Â»Dreiundfünfzig.« Er hatte seit Justins Tod jedes Gefühl für sein Alter verloren, es war ohne Bedeutung, jetzt, in diesem Zimmer, in ihrer Gegenwart, klangen dreiundfünfzig Jahre furchtbar alt.
    Â»Spielst du ein Instrument?«
    Â»Nein.« Als müsse er ihr etwas beweisen, fügte er hinzu: »Aber ich liebe Musik.«
    Â»Ich weiß.« Sie schaute ihn an, bis er ihrem Blick auswich.
    Das Klappern der Mahjongsteine. Der Singsang des Scherenschleifers. Vogelgezwitscher. Jeder Ort, dachte Paul, hat seine eigene Melodie. Man muss sich nur die Zeit nehmen, sie zu hören.
    Â»Du wolltest mir noch erzählen«, sagte Yin-Yin nach einer langen Pause, »warum du früher zu den Menschen gehört hast, die nichts zu verlieren hatten.«
    Die falsche Frage. Die richtige Frage. »Weil ich damals alles verloren hatte.«
    Die Verwunderung in ihrem Gesicht. Sie hatte die Augen eines besorgten, bekümmerten, aber tief in seiner Seele unverletzten Menschen, in ihnen lag noch so viel jugendliche Zuversicht, dass es ihn fast körperlich schmerzte. Es sind nicht die Jahre, die uns altern lassen, dachte er, es sind die Wunden, die uns das Leben zufügt. Die Verletzungen, die Verluste. Es war ein Blick, der ihm das Gefühl gab, alt zu sein. So alt, wie selten in seinem Leben. Und gleichzeitig eine Sehnsucht in ihm weckte, ohne dass er genau wusste, wonach. Nach der unerträglichen Leichtigkeit der Jugend, die er selbst nie erlebt hatte? Dieses Lebensgefühl, bei dem das Dasein wie ein endloses Meer an Möglichkeiten funkelt, in das man nur eintauchen muss?
    Â»Und heute?«, unterbrach Yin-Yin seine Gedanken.
    Â»Habe ich viel zu verlieren.«

    Â»Was?«
    Â»Wen«, verbesserte er sie. »Wir haben immer nur Menschen zu verlieren. Alles andere ist ersetzbar oder nicht wichtig.«
    Â»Also: Wen?«
    Â»Christine.«
    Â»Und wen hast du verloren?«
    Â»Meinen Sohn.«
    Sie schwiegen lange. Er fürchtete, sie würde weiterfragen, Trost spenden wollen oder, was am schlimmsten wäre, von jemandem erzählen, der auch sein Kind verloren hatte und wie furchtbar das gewesen war, und sie könne sich vorstellen, wie schlimm das für ihn … Aber Yin-Yin spürte offenbar, dass in diesem Moment jedes Wort eines zu viel wäre; sie ertrug die Stille, aus der jede Spannung gewichen war, blickte auf ihre Zehenspitzen und umklammerte die Teetasse. Einer ersten vagen Enttäuschung folgte bei Paul Erleichterung. Er dachte an Justin, und was er wohl sagen würde, könnte er seinen Vater in dieser Unordnung auf dem Fußboden hocken sehen. Er würde mich auslachen, vermutete Paul. Er dachte an Christine und empfand eine unendliche Sehnsucht nach ihr. Sie hatten zwar täglich telefoniert, jedoch immer nur kurz, und die vergangenen Tage waren so hektisch und intensiv gewesen, dass er kaum Zeit gehabt hatte, viel an sie zu denken. Jetzt fühlte er, wie sehr ihn die Recherchen angestrengt hatten und wie sehr er sich auf sie freute.
    Â»Du siehst müde aus. Willst du gehen?«
    Â»Ich glaube, ja.«
    Â»Was heißt, du glaubst?«
    Paul musste über sich selbst lachen: »Dass es besser ist, wenn ich gehe. Ich bin wirklich ein wenig erschöpft.«
    Â»Ich hatte Angst, allein zu sein.«

    Â»Ich weiß. Möchtest du, dass ich bleibe?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Mein Bruder wohnt in der Nähe, vielleicht gehe ich später zu ihm.«
    Â»Wo wollen wir uns morgen früh treffen?«
    Â»Ich hole dich um 9.30 Uhr im Hotel ab.«
    Â 
    Als Paul auf der Changle Lu stand, merkte er erst, wie hungrig er war. Gegenüber dem Supermarkt hatte er ein paar kleine Restaurants gesehen und ging nun im Schatten der Platanen Richtung Fumin Lu. Es war kurz vor Anbruch der Dämmerung, in den überfüllten Straßen stritten Autos, Fahrräder, Fußgänger und fliegende Händler um den Platz. Einer wollte ihm gefälschte Uhren verkaufen, ein anderer Kugelschreiber. Gürtel, raubkopierte DVDs. Eine Frau folgte ihm und zischelte fortwährend »Gucci-Prada-Wietong. Billig, billig, bester Preis« in sein Ohr, bis er sie mit einer energischen

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