Drachenspiele - Roman
Verträge ausarbeiten, Firmen beraten, in dem Wissen, dass nur ein paar hundert Kilometer entfernt sich gesunde Embryos in missgebildete verwandeln, nur weil Sie nichts tun? Könnten Sie das?«
Paul glaubte, nicht richtig zu hören. War das Yin-Yins Ernst, oder wollte sie Chen provozieren? Was hatte sie dazu gebracht, ihre Meinung ins Gegenteil zu verkehren?
»Junge Frau«, erwiderte der Anwalt, »Ihr Idealismus überrascht mich, und meine Antwort wird Ihnen gar nicht gefallen: Ja, das könnte ich. Wenn ich Ihnen, unter bestimmten Umständen, trotzdem meine Hilfe gewähre, dann nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hätte oder aus moralischen Motiven; es hat andere Gründe, die ich Ihnen nicht erklären werde.«
Zwei Männer zwängten sich zu ihnen auf die Bank, Chen stand auf. »Lassen Sie uns noch ein bisschen weitergehen.«
Sie schlenderten zur Spitze der Promenade. »Ich biete Ihnen
Folgendes an: Ihr Vater kann sich vor Gericht selbst vertreten oder eine Petition einreichen. Dazu hat jeder Chinese das Recht. Ich wäre bereit, eine Klageschrift oder eine Petition zu verfassen und ihn im Laufe des Verfahrens zu beraten, ehrenhalber und natürlich anonym. Vielleicht hat er Glück, und Sanlitun lässt sich, um Ãffentlichkeit zu vermeiden, zu Beginn des Prozesses auf eine Entschädigung ein. Oder â¦Â« Chen machte eine lange Pause, als wolle er sichergehen, dass sie bei jedem Wort genau hinhörten. »Oder Sie versuchen es über die Medien, auch da könnte ich Sie beraten.«
»Keine Chance.« Yin-Yin schüttelte enttäuscht den Kopf. »Herr Leibovitz hat Ihnen doch von meinem Freund bei Peopleâs Daily erzählt. Er darf nicht einmal recherchieren.«
»Ich meine auch nicht die staatlichen Zeitungen oder das Fernsehen. Ich spreche vom Internet. Schreiben Sie alles auf. Fotografieren Sie Ihre Mutter, ohne dass man sie identifizieren kann. Gehen Sie in ein Internet-Café und stellen Sie die Geschichte und die Fotos anonym ins Netz. Dort warten 350 Millionen potenzielle Leser auf Sie. Empörte Leser, die in dem einen oder anderen Fall ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Wütende Leser, aus denen Verbündete werden könnten.«
Paul sah, wie Yin-Yin zusammenzuckte und den Anwalt mit groÃen Augen anstarrte.
»Ein befreundeter Kollege aus der Provinz Heilongjiang hat mir kürzlich von einem interessanten Fall berichtet. In einer Kleinstadt hatte sich eine Fabrik geweigert, geleistete Ãberstunden zu bezahlen. Mehrere Dutzend Arbeiter protestierten dagegen, unter ihnen zwei junge Männer, die Brüder Hu. Der Werkschutz kam und fing an, ohne Warnung auf sie einzuprügeln, den jüngeren Bruder misshandelten sie auf offener StraÃe so schlimm, dass er noch in der Nacht starb. Obwohl es Dutzende von Augenzeugen gab, weigerten sich
Polizei und Behörden zu ermitteln und behaupteten, es sei ein Unfall gewesen. Der Fabrikbesitzer ist ein einflussreicher Mann in dem Ort. Normalerweise wäre die Geschichte damit zu Ende. In diesem Fall hatte ein Passant die Szene mit seinem Mobiltelefon als Video aufgenommen. Der Film tauchte zwei Wochen später im Internet auf.«
Chen hielt kurz die Luft an, bevor er weitersprach. Paul beobachtete, wie Yin-Yin den Worten des Anwalts mit gröÃter Konzentration folgte.
»Ich kann nicht sagen«, fuhr er fort, »ob die Zensoren ihn übersehen hatten, ob er sich zu schnell verbreitete, oder ob ein politisches Kalkül dahintersteckte. Jedenfalls wurden die Stadt und das Unternehmen mit wütenden E-Mails aus dem ganzen Land überhäuft. In Blogs und Chat Rooms wuchs die Empörung mit jedem Tag. Nach einer Woche hatte sie solche AusmaÃe erreicht, dass die Behörden reagieren mussten. Der Leiter des Werkschutzes und einige seiner Männer wurden festgenommen, ebenso mehrere Beamte in der Stadtverwaltung, die ihn gedeckt hatten. Die Schläger konnten identifiziert werden und wurden wegen Totschlags zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Firma zahlte der Familie Hu eine Entschädigung von, ich glaube, hunderttausend Renminbi. Das ist die Macht des Internets. Wir haben keine Vorstellung davon, wie es unser Land verändern wird.«
Paul und Yin-Yin schwiegen nachdenklich.
»Dort sehe ich, um ehrlich zu sein, Ihre beste Chance.« Chen schaute auf die Uhr. »Ich muss dringend zurück ins Büro. Denken Sie über meine Vorschläge
Weitere Kostenlose Bücher