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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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umrundet und darüber gestaunt, wie viele Zimmer sie gehabt hatte.
    Chart schloss die Augen in Erwartung meiner Schilderung.
    »Zwei graue steinerne Statuen des Rattendrachen bewachen das Tor«, begann ich und schloss ebenfalls die Augen, um mir den kurzen Blick, den ich auf die Halle hatte werfen können, in Erinnerung zu rufen. »Sie sind größer als ich und doppelt so breit. Der Drache zur Rechten hält den Kompass des Drachenauges in den Klauen, der andere hat die drei heiligen Schriftrollen im Arm. Geht man an ihnen vorbei, folgen einem ihre Steinaugen. Jenseits des Tors führt ein mit dunklen Steinen gepflasterter Hof zum –«
    »Ich weiß nicht, warum du dir die Mühe machst«, hörte ich Irsa sagen und öffnete die Augen. Sie stand in der Tür und strich sich energisch den Rock glatt. »Diese Missgeburt versteht dich doch gar nicht«, fuhr sie fort und rückte ihren Zopf zurecht.
    Chart und ich tauschten einen Blick. Der Knecht des Mül lers hatte sich zweifellos guter Dinge auf den Heimweg gemacht.
    »Sch … lam … pe«, sagte Chart laut.
    Irsa äffte seine lang gedehnten Laute nach, ohne das Wort zu erkennen, das sie bildeten. Chart sah mich an, verdrehte die Augen und ließ sich vor Lachen auf den Boden fallen. Ich lächelte, als Irsa zurückwich.
    »Missgeburt«, zischte sie und machte das Zeichen, das sie vor dem Bösen beschützen sollte. Dann wandte sie sich mir zu. »Der Meister hat gesagt, du sollst nach deiner Rückkehr sofort zu ihm kommen«, erklärte sie und setzte abfällig hinzu: »Allerdings hat er dich nicht vor Ende des Trainings erwartet.«
    »Wo ist er jetzt?«, fragte ich.
    »Im Mondgarten, auf der großen Aussichtsplattform.« Sie lächelte verschmitzt. Irsa wusste, dass ich den Mondgarten nicht betreten durfte – mein Meister hatte es verboten. » Gleich nach deiner Rückkehr, hat er gesagt.«
    Ich griff nach der Tischkante und zog mich auf die Beine. Sollte ich mich an das Verbot meines Meisters halten, was den Mondgarten betraf, oder seiner Weisung Folge leisten, ihn sofort aufzusuchen? Es würde ihm nicht gefallen, dass ich so früh zu Hause war. Von den übrigen Neuigkeiten, die ich hatte, ganz zu schweigen.
    »Irsa, erledige deine Arbeit«, sagte Kuno. »Hör auf herumzutrödeln oder du bekommst meine Hand zu spüren.«
    Sie warf mir einen letzten, schadenfrohen Blick zu und eil te in den dunklen Flur, der die Küche mit dem Haupthaus verband.
    In einem der eher saftigeren Texte aus den gesammelten Drachenschriften gab es ein Sprichwort: Wen ein Dilemma auf die Hörner genommen hat, der kommt nicht ohne einen Stich in den Hintern davon. Mein Meister würde mein Verhalten schelten – egal ob ich in den Garten ging oder ob ich wartete, bis er herauskam. Da ich sein Missfallen ohnehin erregen würde, konnte ich auch zu ihm gehen. So bekam ich endlich den Garten zu sehen, der ihm so viel Ruhm eingetragen hatte.
    »Bis morgen«, sagte ich zu Chart. Er antwortete mit seinem langsamen Lächeln.
    Ich trat über die Schwelle in den Hof. Links von mir befand sich der Steinwall des Mondgartens, in dessen Metalltor der Umriss eines springenden Tigers graviert war. Dorthin wandte ich mich, und die Gewissheit, dass mich der Zorn meines Meisters treffen würde, beschwerte meine Schritte. Es gab viele Wege, die Wahrheit zu sagen – ich musste nur einen finden, der ihn zufriedenstellen würde. Vom Tor aus war nur ein schwarzer Kiesweg zu sehen, der zu einer hohen Schiefermauer führte. Über die Mauer ergoss sich ein Wasserfall, der in sorgfältig geplanter Willkür über Felsen toste und sich in einem weißen Marmorbecken sammelte.
    Der Garten sollte nach dem Willen meines Meisters die weibliche Energie symbolisieren, und es hieß, bei Vollmond sei er so schön, dass er Männer um ihren Wesenskern bringen könne. Als ich das hörte, fragte ich mich, was wohl mit solch einem Mann geschähe. Würde er eine Frau oder etwas ganz anderes werden? Etwas wie die Schattenmänner bei Hofe? Oder jemand wie ich?
    Am Tor befand sich kein Riegel. Ich folgte mit den Fingern den deutlichen Umrissen des ins Metall gravierten Tigers, auf dass er mir Glück bringen oder vielleicht Schutz gewähren möge, und drückte das Tor auf.
    Der schwarze Pfad schien sich vor mir zu bewegen wie sich kräuselnde Wellen. Als ich ihn betrat, begriff ich, warum: Die Kiesel waren in gleitendem Übergang von matt zu poliert verlegt, warfen das Sonnenlicht also verschieden stark zurück. Links und rechts des Wegs war eine ebene

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