Drachentochter
Sandfläche spiralförmig geharkt. Ich drückte das Tor hinter mir zu und folgte dem Weg zur Mauer mit dem Wasserfall. Meine ungleichmäßigen Schritte klangen dabei wie Münzen in einer Geldbörse. Der Pfad führte um die Mauer herum. Ich blieb einen Moment lang stehen und horchte. Durch das Rauschen des ins Becken stürzenden Wassers hindurch war das Gluckern eines weiteren fließenden Gewässers zu hören. Ansonsten war es still. Doch tief in mir spürte ich das leise Trommeln sorgsam unter Verschluss gehaltener Energie. Ich wählte den linken Pfad und ging um die Mauer herum in den Hauptgarten.
Es war eine streng angeordnete Gartenlandschaft: Gruppen von Steinen auf Sandflächen; spiralförmige, mit schwarzen und weißen Kieseln bestreute Wege; ein raffiniert gesponnenes Netz aus Wasserfällen, Bächen und Teichen, das die trommelnde Energie zur hölzernen Aussichtsplattform lenkte. Mein Meister kniete in deren Mitte und wirkte so streng und asketisch wie seine Umgebung. Ich verbeugte mich und wartete auf seine Reaktion. Er rührte sich nicht. Nichts an seinem hageren Körper deutete auf Verärgerung hin. Ein Schatten am Himmel ließ mich zusammenfahren. Ich sah auf, doch es war nichts zu sehen. Kein Vogel. Keine Wolke. Ich spürte nur eine seltsame, heiße Freude, die das Ziehen in meinem Unterleib und den Schmerz in meiner Hüfte besänftigte.
Der Körper meines Meisters versteifte sich. »Was machst du hier?«
»Mir wurde gesagt, Ihr wollt mich sehen, Meister«, erwiderte ich und verbeugte mich tiefer. Noch immer spürte ich keinen Schmerz.
»Warum bist du so früh zurück?«
»Schwertmeister Ranne hat gesagt, ich müsse nicht mehr trainieren«, antwortete ich vorsichtig.
»Du solltest nicht hier sein. Vor allem nicht jetzt. Die Energien sind zu stark.« Er erhob sich in einer fließenden Bewegung und die ausgefransten Silberstickereien auf seinem Gewand glitzerten in der Sonne. »Komm, wir müssen gehen.«
Er streckte die Hand aus. Ich eilte heran, bot ihm meinen Arm und machte mich auf heftige Schmerzen gefasst, als er sich auf mich stützte und von der Plattform trat.
Er blieb stehen, ohne meinen Arm loszulassen. »Spürst du sie?«, fragte er.
Ich blickte in sein ausgezehrtes Gesicht, dessen markante Knochen aufgrund des rasierten Schädels noch stärker hervortraten. »Wen soll ich spüren?«
»Die Energien.« Seine Stimme klang ein wenig verärgert.
Ich senkte den Kopf. »Ich spüre die Wasserenergie zur Plattform fließen«, sagte ich.
Er schnippte mit den Fingern. »Das spürt jeder Anfänger. Fühlst du sonst nichts?«
»Nein, Meister.« Das stimmte nicht, doch wie hätte ich ihm erklären sollen, dass ich einen Schatten zu spüren geglaubt hatte? Oder dass meine Schmerzen verschwunden waren und ich nun ein Gefühl sanfter Entspannung empfand?
»Dann waren wir vielleicht erfolgreich«, brummte er, wandte sich um und ging schnell zum Haus. Ich folgte ihm mit zwei Schritten Abstand und achtete darauf, auf den lockeren Kieselsteinen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ausnahmsweise bereitete mir das Gehen einmal keine Pein. Wir kamen an einem schlichten Mondaltar vorbei, einem glatten, nach innen gewölbten Stein, der auf zwei kleineren Felsen lag und sich inmitten eines flachen, aus Marmor errichteten Amphitheaters befand. Der Kieselweg verbreiterte sich vor einer weiteren Aussichtsplattform, die zugleich als Eingang zum Haus diente. Zwei geschnitzte Türen standen offen und dahinter waren vom Boden bis zur Decke reichende Regale voller Schriftrollen zu erkennen, ein Schrank sowie ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Die Bibliothek meines Meisters – eine weiterer Bereich, der mir verboten war. Bis jetzt. Ich blieb stehen und starrte auf all die Schriftrollen. Mein Meister hatte mir das Lesen und Schreiben eingebläut, und ich hatte die Klassiker und die gesammelten Drachentexte studiert, doch ich sehnte mich, von anderen Dingen zu lesen.
»Steh nicht herum und glotz wie ein Narr«, sagte mein Meister und streckte die Hand aus.
Ich half ihm auf die Plattform, während Rilla – Charts Mutter und die Kammerdienerin meines Meisters – aus der Bibliothek kam und an der Tür niederkniete. Zum ersten Mal bemerkte ich die grauen Wirbel in dem sauber gebundenen Zopf, der sie als unverheiratet auswies. Er sollte sie beschä men, doch sie trug ihn mit stiller Würde. Mein Meister streck te erst den einen, dann den anderen Fuß aus und sie zog ihm die abgewetzten Seidenpantoffeln ab und stellte
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