Drachentochter
ungehindert Weiterreisen.«
Der Prinz reichte mir einen roten Beutel, der einen prallen Geldsack symbolisierte und zur Bezahlung von Sholas Geisterdienern gedacht war, die meinem Meister die Weiterreise erleichtern, aber auch verweigern konnten. Ich legte den Beutel der Statue zu Füßen und goss Wein in den steinernen Becher, den sie in ihrer krallenbewehrten Hand hielt. Lass ihn durch, flehte ich im Stillen.
Dann wandten wir uns dem Drachen zu. Er war sehr genau getroffen. Der Bildhauer hatte zweifellos eng mit einem Tigerdrachenauge zusammengearbeitet.
»Tigerdrache, Hüter des Mutes«, sagten wir gemeinsam, »vernimm unsere Lord Brannon geltende Bitte.«
Ich trat näher an die Figur heran, deren steinernes Maul unmittelbar über meinem Kopf hing. »Einer, der dir einst diente, geht nun ins Land der Geister hinüber«, sagte ich. »Nimm diese Opfergaben an und begleite ihn mit den Ehren, die er verdient, zu seinen Vorfahren.«
Ich legte ihm eine mit falschen Smaragden besetzte Messingkette zwischen die steinernen Klauen und goss den restlichen Wein in eine grüne Marmorschale. Dann schloss ich die Augen, atmete die schwüle Luft ein, spürte meinem Hua nach und versuchte, durch den Nebel meines Kummers hindurch mit dem inneren Auge zu sehen. Ich wollte nur einen kurzen Blick auf den Tigerdrachen erhaschen – um sicher zu sein, dass er wusste, mein Meister war hier und wartete auf Durchlass. Ich öffnete die Augen, spürte, wie sich mein Gesichtsfeld seltsam verschob, und sah die Drachen. Alle saßen um den Friedhof herum, jeder an seinem Platz der Windrose. Der grüne Tigerdrache leuchtete stärker als die anderen; er hatte den Kopf zurückgeworfen, und aus seiner langen Kehle schallte eine traurige Totenklage. Kein menschliches Ohr vermochte sie zu hören, doch ich fühlte ihre Schwingungen wie das Zittern der Erde.
Mein Drache aber, der Spiegeldrache, war kaum zu sehen; nur als Umriss, den dichte Nebelschleier trübten und verwischten. Ich schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf, was das Band zwischen uns vollends zerriss. Er wurde noch blasser. Warum entzog er sich mir?
Die Buchperlen schlangen sich mir fester um den Arm, als wollten sie mir ihr Mitgefühl zeigen.
Lord Elgon verließ die Prozession und kam auf uns zu. Als amtierendes Tigerdrachenauge war er der Hüter des Friedhofs. Er verbeugte sich erst vor den Steinfiguren, dann vor uns und sein freundliches Lächeln ließ sein Gesicht weniger schaufelartig wirken als sonst.
»Auch wenn wir oft verschiedener Ansicht waren«, sagte er leise, »so hat Lord Brannon dem Tigerdrachen doch stets ehrenvoll gedient. Ich schätze mich glücklich, sein Lehrling gewesen zu sein.«
Er verbeugte sich erneut und öffnete das Tor. Vielleicht lag es an Elgons unerwarteter Freundlichkeit – jedenfalls brach sich mein Schmerz plötzlich Bahn. Ein Schluchzer stieg mir in die Kehle, doch ich hielt ihn zurück und blinzelte die Tränen weg, die mir schon in den Augen brannten. Der Prinz beugte sich zu mir herüber, und der Geruch von Kräutern, Schweiß und Rauch, der von seiner Haut aufstieg, hatte etwas seltsam Tröstliches.
»Wir sind fast da«, flüsterte er. »Ihr schlagt Euch gut.«
Hinter uns stimmten die Flehenden leise die Eintrittslieder an. Mit gesenktem Kopf, um meine Augen zu verbergen, ging ich neben dem Prinzen an der Spitze des Trauerzugs zu unserem Platz und biss mir auf die Unterlippe, bis ich Blut spürte.
Während der langwierigen Gesänge und dem Verbrennen einer Puppe am Grab meines Meisters focht ich einen bitteren Kampf gegen den Schmerz, der mich zu überwältigen drohte. Ich musste mich beherrschen. Ein Lord fiel nicht auf die Knie und weinte wie eine Frau. Ein Lord schrie seinen Schmerz nicht hinaus und suchte keinen Trost in den Armen seines königlichen Freundes. Ein Lord wohnte den Todeszeremonien mit unerschütterlicher Miene bei und tat seine Pflicht. Und genau das tat ich. Selbst als der Leichnam meines Meisters in eine lang gestreckte Nische geschoben und der Stein, der sein Grab versiegelte, davorgesetzt wurde, verbarg ich meine Verzweiflung hinter einer Maske der Selbstbeherrschung. Während der Beisetzung stand Lord Ido mir die ganze Zeit gegenüber, und ich sah, dass sein Gesicht so starr war wie das meine. Doch ich glaubte nicht, dass sich hinter seiner reglosen Miene Trauer verbarg; wahrscheinlicher schien es mir, dass er im Stillen triumphierte.
Endlich ging die Zeremonie zu Ende. Ich stand stumm da, während die
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