Drachentochter
Trauernden sich nacheinander vor dem Grab verneigten, bis ich schließlich vor dem eleganten Marmorgrabstein allein war. Ich wusste, dass der Prinz und Ryko in respektvollem Abstand hinter mir standen und darauf warteten, dass ich endgültig Abschied von meinem Meister nahm. Doch die eiserne Selbstkontrolle der letzten Stunden zeigte ihre Wirkung: Ich hatte nichts mehr zu geben. Mir fiel kein letztes Gebet ein und auch Tränen weinte ich keine. Nicht einmal ein Wort des Abschieds kam mir über die Lippen. Mein Meister hatte mich verlassen und ich war leer. Und doch regte sich etwas in mir, als ich mich von seinem Grab abwandte.
Ich brauchte einen Moment lang, um es zu erkennen.
Zorn.
15
Am zwölften Tag des neuen Jahres – meinem achten Trauertag – saßen Lady Dela und ich morgens bei geschlossenen Fensterläden im Halbdunkel meines Empfangszimmers und warteten darauf, dass der Palastbote sich aus seiner tiefen Verbeugung erhob und seine Nachricht übergab.
»Lord Eon«, sagte er schließlich, »Seine Hoheit, Prinz Kygo, wendet sich in einer Angelegenheit an Euch, die seinen ruhmreichen Vater betrifft.«
Er reichte mir ein Stück Pergament mit dem Herrschersiegel. Unter dem wuchtigen Wachsabdruck des kaiserlichen Drachen stand:
Die Wellen, die unverwandt ans Ufer schlagen,
bringen nicht nur Erneuerung,
sondern auch die Geister ihrer Vorfahren.
Lady Dela musterte das Blatt. »Das sind Zeilen aus einem Frühlingsgedicht von Lady Jila«, flüsterte sie. »Seine Hoheit gibt Euch die Schätze des Spiegeldrachen zurück. Nehmt die Ehre seines Besuchs an.«
Ich betrachtete den knienden Boten, und nur die Aussicht, den Prinzen zu sehen, verbesserte meine Stimmung. »Sag Seiner Hoheit Dank für das großherzige Zeichen seiner Huld. Wir sehen seiner Ankunft freudig entgegen.«
Der Bote zog sich tief gebückt zurück.
»Ich glaube nicht, dass der Kaiser auf diese Zeremonie leichthin verzichtet«, sagte Lady Dela, und eine kleinen Sorgenfalte trat zwischen ihre Brauen. »Er muss noch immer zu krank sein, um das Bett verlassen zu können.« Sie zuckte mit den Schultern, als wollte sie damit das Gerücht abtun, das seit Tagen im Palast kursierte und demzufolge der Kaiser im Sterben lag. »Lasst Rilla alles für den Besuch des Prinzen vorbereiten.«
Unter meinem schweren weißen Ärmel rührte sich das rote Buch und die Perlen strichen über meine Haut. Vielleicht spürte es, dass es bald wieder mit den übrigen Kostbarkeiten vereint sein würde. Als ich den kleinen Gong schlug, ließen uns Gelächter und Musik aus einem nahen Hof zur geschlossenen Tür sehen. Die Feste zur Feier des Zwölften Tages begannen.
»Alles Gute zum Zwölften Tag«, sagte ich zu Lady Dela. »Möge das Jahr Euch fünffaches Glück bringen.«
»Danke, Lord Eon – das wünsche ich Euch auch.«
Ich nickte. Glück schien sehr weit entfernt zu sein.
Kaum hatten sich die Bewohner der Päoniengemächer im Gartenhof versammelt, meldete einer von Rykos Wächtern die Ankunft des Prinzen. Ich kniete auf einem kleinen Kissen am Weg und verbeugte mich, bis meine Stirn den Boden berührte. Erst zogen die Stiefel der königlichen Garde, dann die weichen Schlüpfschuhe der Protokollbeamten vorbei. Die tiefe Verbeugung ließ meine Hüfte schmerzen. Wenn der Prinz nicht bald käme, würde ich es nicht schaffen, mich ohne Hilfe zu erheben. Schließlich näherten sich die staubigen, in Sandalen steckenden Füße der königlichen Sänftenträger und blieben vor mir stehen.
»Lord Eon«, sagte der Prinz.
Ich hockte mich schwerfällig auf. Die Wunde in seinem Gesicht heilte gut, der Bluterguss war zu matten Braun- und Gelbtönen verblasst. Kygo trug sein offizielles Gewand aus purpurfarbener Seide und eine kleinere Version der Kaiserperle an einer Kette um den Hals – ein Regent im Wartestand. Hinter ihm beobachtete uns eine kleine Schar Höflinge, gefolgt von zwei Reihen Dienern, die mit Schachteln, Kohlebecken aus Messing und schweren Kisten beladen waren. Am Schluss kam ein Karren, den vier Männer zogen und auf den eine Kommode und einige geschnitzte Stühle gebunden waren.
»Danke, Hoheit, für die Ehre Eures Besuchs.« Ich lächelte, was mir einen tadelnden Blick des Protokollbeamten eintrug. Ein Lächeln war bei diesem Anlass offenbar unangebracht.
» Mir ist es eine Ehre, Euch den Schatz des Spiegeldrachen zurückzugeben«, erwiderte der Prinz. »Mein Vater lässt Euch verbindlichste Grüße ausrichten.«
Ich verneigte mich
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