Drachentochter
Ich zum Beispiel bin mir nicht sicher, dass dies bei Lord Eon der Fall ist.«
»Ich auch nicht«, sagte Dram und lächelte mir ermutigend zu. Einige weitere Stimmen äußerten sich ähnlich.
Ido wandte sich an das Pferdedrachenauge. »Was wisst Ihr schon von Befähigung?« Er warf seinen Ratsbrüder einen wütenden Blick zu.
»Lord Idos Sorgen sind durchaus berechtigt«, erklärte Elgon schleppend. Das Tigerdrachenauge hob die Hand, um der aufkommenden Unruhe Einhalt zu gebieten. »Deshalb schlage ich vor, wir unterziehen ihn einer Prüfung.«
Eine Prüfung? Ich grub die Fingernägel in die Handflächen. Wenn ich meine Macht vorführen sollte, wäre alles verloren.
»Und worin soll die Prüfung bestehen«, fragte Tyron.
Elgon verbeugte sich vor Ido. »Das überlasse ich unserem verehrten Vorsitzenden.«
Ido neigte den Kopf zur Seite. »Tyron, ich glaube, Eure Provinz hat ihre jährliche Bitte an den Drachenrat gerichtet, den Monsunregen zu bändigen und ihr Getreide zu schützen.«
Tyron nickte und seine Kiefermuskeln spannten sich.
Ido lächelte. »Lord Eon kann uns seine Befähigung zeigen, indem er diese Aufgabe übernimmt. Immerhin möchte er den Posten des Zweiten Herrschenden Drachenauges antreten.«
»Das ist zu schwer«, wandte Dram ein. »Der Junge hat noch keine Übung darin.«
»Das sage ich ja«, erwiderte Ido aalglatt.
Tyron warf mir einen raschen Blick zu. Es war ein gewaltiges Risiko für ihn wie für mich. Falls etwas schiefging, würde der Königsmonsun die ganze Gegend überschwemmen und die zerstörte Ernte würde ihn um sein Jahreseinkommen bringen. Er straffte die Schultern.
»Ich habe vollkommenes Vertrauen zu Lord Eon«, erklärte er.
Ido wandte sich mir mit begeisterter Miene zu. Er wusste, dass ich keine Chance hatte. »Seid Ihr mit dieser Prüfung einverstanden?«
Alle Augen waren auf mich gerichtet und die Anspannung war mit Händen greifbar. Ich wusste nicht, wie ich meinen Drachen rufen, geschweige denn, wie ich die schlimmsten Monsunfluten des Jahres beeinflussen sollte. Doch ich hatte keine Wahl. Mein Sitz im Drachenrat entschied darüber, ob Ido die Macht der Drachenaugen zukünftig für seine Zwecke missbrauchen oder ob sie weiter dem Kaiser und dem Wohl des Landes dienen würde.
»Ja«, antwortete ich und merkte, dass mir beinahe die Stimme weggeblieben wäre.
Ido lächelte triumphierend. »Dann warten wir nun alle darauf, dass Lord Tyron Euch auffordert, in seine Provinz zu reisen.«
»Ich nehme an, dass Ihr nichts dagegen habt, wenn ich mich bis dahin um Lord Eons Ausbildung kümmere«, sagte Tyron steif.
Ido zuckte die Achseln. »Nicht das Geringste.«
Die Monsunzeit begann stets in der Provinz Daikiko. Dieses Jahr hatten die Wetterbeobachter vorhergesagt, der Königsmonsun werde in ungefähr einer Woche die Küste erreichen. Ido wusste, dass es mir nicht gelingen würde, zwölf Jahre Studien und praktisches Training in eine knappe Woche zu zwingen.
»Allerdings«, fuhr er mit leisem Seufzer fort, »ziemt es sich wohl kaum für Lord Eon, während der neuntägigen Trauerzeit zu trainieren.«
Tyrons Miene verdüsterte sich. »Das steht völlig außer Frage«, erklärte er knapp.
Wir warfen einander einen bestürzten Blick zu. Da noch vier Trauertage vor mir lagen, blieb uns womöglich keine Zeit mehr, mit dem Unterricht auch nur zu beginnen.
»Entschuldigt, Mylord«, sagte Rilla kniend von der Türschwelle her. »Soll ich den Tee servieren?«
Ich nickte, da ich kein Wort hervorbringen konnte. Ido hatte mich sauber in die Falle gelockt. Jetzt brauchte er nur noch zu warten, bis sie zuschnappte.
Mein Schritt passte sich dem blechernen Klang der Becken und dem Schlagen der Trommeln an, als ich dem Leichnam meines Meisters zum Friedhof folgte. Vier stämmige Männer trugen ihn im perfekten Gleichschritt auf einer mit weißen Orchideen überhäuften Bahre. Lady Dela hatte die vier besorgt, ebenso wie den Chor der Flehenden und alles andere, das beim Begräbnis eines bedeutenden Mannes erforderlich war. Sie selbst war natürlich nicht anwesend; Frauen waren bei der Beerdigung eines früheren Drachenauges nicht zugelassen. Wenn in mir auch nur noch ein Funken Leichtigkeit gewesen wäre, hätte ich über diese Ironie gelacht.
Der Prinz ging neben mir und passte sich meinen humpelnden Schritten an. Er war in die schwarze Robe des Zweiten Trauernden gehüllt, die das Gan Hua im Gegensatz zu meinem weißen Lin Hua symbolisierte, und trug das silberne Tablett mit
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