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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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Opfergaben und Grabwächtern aus gebranntem Ton. Es musste schwer wiegen, doch das Tragen schien ihn nicht anzustrengen. Ein Bild zuckte durch meine Gedanken – der Prinz beim Übungskampf – und die Erinnerung an seinen schlanken, muskulösen Leib und seine königliche Haltung ließ mich erröten. Ich warf ihm einen Seitenblick zu, denn ich fürchtete, er habe meine Verlegenheit bemerkt, doch er war ganz darauf konzentriert, das Tablett im Gleichgewicht zu halten. Hinter uns bildeten Ryko und zwei kaiserliche Wächter eine schützende Linie, und das Rasseln ihrer Rüstungen und Schwerter begleitete den Zug mit einem ganz eigenen Rhythmus.
    Ich wischte mir den Schweiß von der Oberlippe. Der Morgen war bereits drückend – es war die Art Schwüle, die der Monsunzeit unmittelbar vorausging. Lord Tyron hatte am Vortag ein förmliches Schreiben an alle Drachenaugen gesandt, demzufolge die Wetterbeobachter in seiner Provinz nun vorhergesagt hatten, der Königsmonsun werde in nur sechs Tagen eintreffen, also zwei Tage nach Ablauf der offiziellen Trauerzeit. Eine wachsende Angst durchfuhr mich. Zwei Tage Training waren so gut wie nutzlos, zumal ich währenddessen in die Monsunprovinz reisen musste. Doch Tyron bestand darauf, dass ich mich an die Vereinbarung hielt; er wollte mich bis zum Ende der Trauerzeit nicht einmal mehr besuchen oder einen Boten von mir empfangen, um Ido keine Gelegenheit zu bieten, uns hinterhältiger Machenschaften zu bezichtigen. Er und Ido waren irgendwo hinter uns, inmitten der anderen Drachenaugen. Ich atmete tief ein und drückte die Panik auf dem Grund meines Magens zu einem kleinen, harten Knoten zusammen. Dies war der Tag, an dem mein Meister endgültig von der Welt ging. Es würde ihn entehren, wenn ich bei der Erfüllung meiner Pflichten versagte.
    Vor uns schimmerten die Gräber der Tigerdrachenaugen durch die vom Pflaster aufsteigende Hitze. Rauchiger Kräuterduft kam aus den kleinen Kohlebecken, die die Flehenden der Prozession vorantrugen. Als wir uns dem Doppeltor näherten, befahl einer der Bahrenträger mit durchdringender Stimme anzuhalten. Die Prozession blieb stehen und die Musik verstummte. Die plötzliche Stille und Reglosigkeit waren so erstickend und lastend wie die Schwüle.
    Zwei große Steinfiguren bewachten den Eingang zum Friedhof. Links stand Shola, die gedrungene Todesgöttin, rechts ein elegant geschwungener Tigerdrache. Ich betrachtete die beiden und war plötzlich unfähig, mich zu bewegen. Würden wir erst durch dieses Tor gezogen sein, dann würde ich sogar den Leichnam meines Meisters verlieren. In der langen Reihe der Trauernden hinter uns erhob sich unruhiges Gemurmel.
    »Lord Eon?«, flüsterte der Prinz. »Es ist Zeit.«
    Ich nickte, konnte aber noch immer keinen Schritt tun. Die Welt war zu einer Glocke aus Hitze und einem betäubenden Herzschlag geschrumpft. Würde ich einen Fuß vorsetzen, dann würde mein Herz gewiss zerreißen. Ich spürte, wie der Prinz meine Hand auf seinen Arm legte. Langsam führte er mich zu den Figuren und seine geflüsterten Ermutigungen ließen das laute Pochen in meinen Ohren allmählich verstummen.
    Unmittelbar vor dem Tor aber blieb ich erneut stehen und stemmte mich gegen sein Gewicht, das mich weiterzog. »Nein! Wir hatten keine Zeit, die Fürbitten zu üben«, sagte ich. »Wie sollen wir die Götter ohne die richtigen Fürbitten anflehen?«
    »Lord Eon, schaut mich an.« Ich blickte dem Prinzen in die mitfühlenden Augen. »Es ist alles in Ordnung. Wir kennen die Fürbitten. Erinnert Ihr Euch? Lady Dela hat sie uns beigebracht. Wir kennen sie.«
    Ich erinnerte mich. Wir hatten eine Stunde lang mit Lady Dela zusammengesessen und die Worte gemeinsam gesprochen, wobei unsere Stimmen zu einer Stimme geworden waren. Es war eine angenehme Abwechslung von der kalten Formalität der Pflichtbesuche und vorgeschriebenen Rituale gewesen.
    »Seid Ihr nun bereit?«, fragte er.
    Ich war es nicht. Und ich würde es niemals sein, doch ich durfte meinen Meister nicht enttäuschen. Und den Prinzen auch nicht.
    »Ja.«
    Wir atmeten beide tief ein und senkten die Köpfe.
    »Shola, Göttin des Dunkels und des Todes, vernimm unsere Lord Brannon geltende Bitte«, sagten wir im Chor, und der Bass des Prinzen übertönte meine brechende Stimme.
    Jetzt war ich dran. Ich trat einen Schritt an die Figur heran und blickte in Sholas finsteres Gesicht. »Hier kommt ein Mensch in dein Reich«, sagte ich. »Nimm diese Opfergaben an und lass ihn

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