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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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fasste ich eins davon näher ins Auge. Hatte ich es nicht eben auch im Buch gesehen? Ich sah mir beide Zeichen genau an. Ja, sie glichen einander. Ich drehte den Kompass ein wenig und stellte fest, dass sich noch ein zweites Schriftzeichen auf Kompass wie Buchseite befand. Ich lachte, sprang vor Begeisterung von meinem niedrigen Stuhl und vollführte siegesgewiss eine unbeholfene Fechtsequenz, den Zweiten Rattendrachen.
    Dann hielt ich inne. Was sollte ich mit diesem Wissen anfangen? Das Buch konnte ich noch immer nicht lesen. Genauso wenig wie den Kompass. Und ich hatte keine Möglichkeit, den Code zu entschlüsseln.
    Die Schriftzeichen standen auf dem Kompass und im Buch – es handelte sich offenkundig um eine besondere Schrift der Drachenaugen. Konnte also ein anderer Lord diese Zeichen lesen und mir ihre Bedeutung beibringen? Aber es gab nur noch ein Drachenauge, dem ich vertraute, doch ausgerechnet Lord Tyron weigerte sich, mich vor Ablauf meiner Trauerzeit zu sehen. Eine Welle der Enttäuschung ließ mich wieder auf den Stuhl sinken. Er würde noch nicht einmal meinen Boten empfangen. Ich konnte ihm den Kompass also frühestens in der Kutsche auf dem Weg in die Provinz Daikiko zeigen. Ob mir dann noch genug Zeit blieb, das Buch vor der Prüfung zu entziffern? Das erschien mir unwahrscheinlich. Der Name meines Drachen schien mir so fern wie zuvor.
    Ich richtete mich auf und ging langsam alle Seiten des Buchs auf Schriftzeichen durch, die denen auf dem Kompass entsprachen. Es gab eine ganze Reihe davon, doch diese Entdeckung brachte mich nicht weiter, da ich nicht verstand, was ich sah. Schließlich unterbrach Rilla meine sinnlosen Bemühungen und meldete die Ankunft zweier Beamter aus der Abteilung für Irdische Hinterlassenschaften.
    Ich schob den Kompass zurück in den Beutel und das Buch in den Ärmel. Kaum hatten die Perlen es mir wieder an den Unterarm gebunden, traten die beiden Männer ein.
    Beide strahlten nur mühsam unterdrückten Ärger aus, was den Dickeren die feuchten Lippen zu einem säuerlichen Schmollmund verziehen ließ. Für ihre schlechte Laune waren zweifellos die lauter werdende Musik und das zunehmende Gelächter draußen verantwortlich, denn ihre Amtspflichten ließen die beiden die Feiern des Zwölften Tages versäumen.
    Ich gab ihnen ein Zeichen, sich aus ihrer tiefen Verneigung zu erheben.
    »Lord Eon, es ist Tag des Erbes«, sagte der Dicke, »und wir bringen Euch das beglaubigte Testament von Lord Brannon.« Er verneigte sich tief und reichte mir eine dünne, mit Wachs versiegelte und mit Seide verschnürte Pergamentrolle.
    Ich nahm sie und wusste nicht recht, ob die beiden von mir erwarteten, sie in ihrer Gegenwart zu lesen. Sie sahen mich an und der Dünnere musterte mich mit kaum verhohlener Ungeduld.
    »Wir stehen zu Diensten, falls Ihr Fragen habt, Mylord«, bemerkte er spitz.
    Rasch öffnete ich den Knoten, brach das Siegel und entrollte das Papier. Das Testament war kurz: Alles, was Lord Brannon bei seinem Tod noch besessen hatte – das Haus mit Grundstück und Leibeigenen – gehörte jetzt mir. Ich starrte auf die Worte und versuchte, ihre Bedeutung zu verstehen.
    Ich war nun Grundeigentümer. Der Mondgarten, die Bibliothek meines Meisters, die Küche, der Hof – all das gehörte mir. Ich las das Testament erneut und begriff endlich, was da geschrieben stand. Ich besaß nicht nur Haus und Grundstück, sondern auch die verbliebenen Leibeigenen meines Meisters. Rilla und Chart gehörten mir. Und Kuno auch. Dann konnte ich mir ein leises Lachen nicht verkneifen, denn sogar Irsa gehörte jetzt mir.
    »Wann wurde dieses Schriftstück aufgesetzt?«, fragte ich.
    »Das Datum steht unten, Mylord«, sagte der Dicke.
    Das Testament stammte aus dem letzten Jahr des Hundes. Mein Meister hatte mich also vor zwei Jahren zu seinem Erben gemacht, ehe ich auch nur begonnen hatte, für die Zeremonie zu trainieren. Warum hatte er mir alles hinterlassen?
    »Gehören mir Haus und Grundstück schon?«, fragte ich. »Oder muss ich noch warten?«
    Der Dünne warf seinem Amtsbruder einen wissenden Blick zu. Siehst du, schien er zu sagen, sie alle sind gierig.
    »Von heute an gehört Euch alles, was in diesem Schreiben aufgeführt ist, Mylord«, sagte er.
    Ich besaß also Land. Und mit Land war eine andere Art Macht verbunden: Geld. Für einen Augenblick fühlte ich mich, als sei alle Angst von mir genommen. Dann aber erkannte ich, dass selbst dieses große Glück nicht genügte. Geld würde mir

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