Drachentochter
Angst. Ich erwartete beinahe schon, er werde das Zeichen zur Abwehr böser Geister machen, doch er verneigte sich hastig bis fast auf den Boden. Ich war schließlich das mächtige Spiegeldrachenauge, der Bringer des Glücks. Ich strich mit der Hand über den immer leichter werdenden Pulverbeutel in meiner Tasche und betete im Stillen, dass die Dörfler recht behalten würden. Wie zur Antwort bewegten sich die Perlen an meinem Unterarm träge hin und her. In den letzten Tagen schienen sie überhaupt immer lockerer zu sitzen.
Die drei Alten führten mich zu meinem Stuhl neben Lord Ido. Er saß entspannt da und seine dunkle, muskelbepackte Intensität war an diesem Tisch voll vorzeitig gealterter Männer körperlich spürbar.
Dillon stand hinter ihm und zog noch immer ein finsteres Gesicht. Inzwischen verstand ich seine unberechenbaren Stimmungswechsel und Lord Idos plötzliche Wutausbrüche: In uns dreien brodelte die heiße Quelle des Sonnenpulvers. Ob Dillon wusste, dass er das Pulver verabreicht bekam? Ich hätte ihn warnen sollen, nachdem ich es in der Bibliothek gefunden hatte, doch die Sorge um andere war von der Trauer um den Tod meines Meisters verdrängt worden. Und von meinem Zorn.
Ryko trat hinter mich und nahm den Platz ein, an dem mein Lehrling hätte stehen sollen. Ein Begrüßungsgemurmel erhob sich unter den Drachenaugen ringsum. Ich nickte Lord Dram, der auf halber Höhe der Tafel saß, und dem mir gegenüber sitzenden Lord Garon zu, zwei Anhängern des Kaisers, die mich unterstützten.
»Lord Eon, wir fürchteten schon, der Zwischenfall am Straßenrand würde Euch davon abhalten, Euch heute Abend zu uns zu gesellen«, sagte Lord Ido.
Sein schönes Gesicht war ganz aalglatte Höflichkeit, doch in seinen Augen stand das nächtliche Funkeln des Wolfs. Wie hatte er von meinem Zusammenbruch erfahren? Von seinem Drachen? Oder nur durch den Klatsch der Dienerschaft?
»Jetzt bin ich da«, erwiderte ich. »Wolltet Ihr damit andeuten, ich hätte mich vor der Prüfung drücken wollen?« Ich hörte die Erregung in meiner Stimme und grub mir die Fingernägel in den Oberschenkel, um meine aufsteigende Streitlust zu unterdrücken.
Idos Miene wurde wachsam. »Aber gar nicht. Ich merke doch, dass Ihr ganz wild darauf seid, Euch der Herausforderung zu stellen.« Er musterte mich scharf. »Wirklich sehr wild.«
Lord Tyron setzte sich auf den letzten freien Stuhl. »Endlich angekommen«, begann er. »Ich muss allerdings sagen, dass ich lieber im Bett wäre, als an dieser ländlichen Festtafel zu sitzen. Hoffen wir, dass die offizielle Begrüßung dieses Jahr kurz ausfällt.«
Sie fiel nicht kurz aus. Die Monsunfeier war das wichtigste Fest der Dörfler, und sie waren fest entschlossen, uns mit Unterhaltung und Essen zu ehren, um die wundersame Rückkehr des Spiegeldrachenauges zu feiern. Während all der sorgfältig eingeübten Ansprachen und Geschichtstänze, zwischen denen immer wieder Platten voll einheimischer Spezialitäten aufgetragen wurden, spürte ich Lord Idos Blick auf mir ruhen. Ich legte die Hand auf den Ausschlag in meinem Nacken, richtete die Aufmerksamkeit allein auf meinen Teller oder die Vorführung vor mir und glich darin einem Kaninchen, das so tut, als liefe der Wolf nicht neben ihm her.
Endlich war die letzte Ansprache gehalten. Lord Tyron seufzte erleichtert auf, als zwölf Dörfler kamen, um uns zu unseren Betten zu führen. Die mir und Lord Ido zugewiesenen Männer traten zurück, als der Dorfälteste Hiron angelaufen kam.
»Lord Eon. Lord Ido.« Er verbeugte sich vor uns. »Wie es Sitte ist, wird das Herrschende Drachenauge auch dieses Jahr im Drachenhaus untergebracht, das unsere Ahnen dem Drachenrat aus Dankbarkeit errichtet haben.« Er wies auf ein stattliches steinernes Gebäude hinter uns. »Dieses Jahr nun hat uns zwei Herrschende Drachenaugen beschert und wir haben das Drachenhaus deshalb für das Spiegel- und das Rattendrachenauge in zwei getrennte Wohnbereiche geteilt.« Er lächelte stolz. »Ich hoffe, Ihr seid damit zufrieden, Mylords.«
Ich sollte mit Ido unter einem Dach wohnen? Man sah mir mein Erschrecken offenbar an, denn das Lächeln des Dorfältesten gefror. Ryko schob sich von hinten vorsichtig näher an mich heran.
»Eine bewundernswerte Lösung angesichts der ungewöhnlichen Situation, Dorfältester Hiron«, sagte Lord Ido belustigt. »Seht Ihr das nicht auch so, Lord Eon?«
Da es galt, höflich zu bleiben und die Würde des Alten zu wahren, blieb mir nichts
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