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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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von dem großen Insulaner war nichts zu sehen.
    Lord Tyron sah mich an. Sein Gesicht war ungewöhnlich bleich. »Seid Ihr bereit?«
    Nein, ich war nicht bereit, doch die Wetterbeobachter hatten ihren Boten mit dem abschließenden Bericht ins Dorf geschickt: Der Königsmonsun nahm Kurs aufs Landesinnere. Er sei nur noch eine halbe Glocke entfernt, hatte der erschöpfte Läufer gekeucht.
    Ich drückte meinen rubinroten Kompass zwischen den feuchten Handflächen. Die goldene Scheibe fühlte sich kalt an. Kurz vor Ankunft des Boten war es mir gelungen, mit dem Tee der Geistmacherin, den Rilla mir aufgegossen hatte, eine weitere Prise Sonnenpulver einzunehmen. Das viele Pulver hatte einen pochenden Kopfschmerz verursacht, mit dem schweißtreibende Hitzewallungen einhergingen.
    Ich zwang mich dazu, den großen Steinkompass zu betrachten. Am Abend zuvor war er eine niedrige, runde Bühne von der Größe einer kleinen Kammer gewesen, die keine besonderen Eigenschaften hatte. Heute war er das Machtzentrum der Drachenäugen. Im Sonnenlicht sah ich nun, dass die zwölf Punkte des Kompasses durch in grauen Stein gesetzte Pfeile aus Jade markiert waren. Über jeder Markierung stand eine gekrümmte Holzbank, deren Sitz geschickt mit den Nachbarsitzen zu einem geschlossenen Kreis verbunden war, der am Rand des Podiums verlief. In jede Sitzfläche war das der jeweiligen Richtung gewidmete himmlische Tier geschnitzt. Die Holzarbeiten waren so wunderbar, dass die Tierzeichen lebendig schienen: die Augen des Hasen glitzerten, der Affe würde jeden Moment zupacken und die Schlange zischelte. Der Lack des Holzdrachen, der sich über meiner Bank erhob, glänzte noch vor Frische – die Handwerker mussten hart gearbeitet haben, um ihn rechtzeitig zum Fest fertigzustellen.
    Am Morgen hatte Lord Ido mir seine Berechnung der Drachenlinien mit überlegenem Lächeln in die Hand gedrückt; wir wussten beide, dass ich auch mit diesen Unterlagen kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Im Geist übertrug ich sein Schaubild aufs Podium, um mir einzuprägen, wo die Meridiane der Erdkraft den riesigen Kompass aus Stein kreuzten. Ido zufolge hatte das Neue Jahr die Energieströme verändert, und die größte Kraft ließ sich nun aus den Linien ziehen, die den nördlichen Bereich des Kompasses schnitten. Diese Berechnungen galten natürlich für das Rattendrachenauge. Ich fragte mich, ob die Linien wirklich dort verliefen, wo sie laut Ido waren; vielleicht hatte er die Gelegenheit genutzt, mir ein weiteres Hindernis in den Weg zu legen. Ich blinzelte, atmete tief ein und begann, in die Energiewelt einzutauchen. Womöglich würde es mir ja gelingen, das Netzwerk der Erdkräfte unter dem Podium zu sehen.
    »Lord Eon.« Eine Stimme durchbrach meine Konzentration.
    »Was gibt’s?«
    Der Dorfälteste Hiron verbeugte sich vor mir. »Mylord, es ist nun doch sicher Zeit, den Steinkompass zu betreten?«
    Ich nickte und mein Ärger ging in meiner Angst unter. Nun also war es so weit. Die übrigen Drachenaugen standen jeweils ein kleines Stück voneinander entfernt und bereiteten sich auf die kommenden Anstrengungen vor.
    »Soll ich den Kreis öffnen, Mylord?«, fragte Hiron besorgt.
    »Ja, beginnen wir.« Ich überflog die Menge erneut, doch Ryko war noch immer nirgendwo zu entdecken.
    Hiron kniete sich auf die niedrige Stufe, die das Podium umgab, schob meine Bank vorsichtig nach innen und zog sich eilig zurück.
    »Drachenaugen«, begann ich, doch das Beten ringsum übertönte meine Stimme. Ich setzte neu und lauter an: »Bitte nehmt Eure Plätze ein!«
    Mit ironischer Verbeugung trat Lord Ido hinter mich und erkannte so meine Oberhoheit während der Prüfung an. Die übrigen Drachenaugen folgten ihm in der Reihenfolge des Drachenkreises, sodass Lord Meram – das junge Schweinedrachenauge, das im Vorjahr geherrscht hatte – das Schlusslicht bildete. Das Beten der Menge wurde lauter und vibrierte in meinen Ohren wie der stechende Gesang der Zikaden. Ich führte die Drachenaugen auf das steinerne Podium und achtete dabei darauf, nicht über mein rotes Seidengewand zu stolpern. Die Perlen hatten sich während der letzten Stunden noch weiter gelockert. Ich strich mir über den Ärmel, um mich zu vergewissern, dass das Buch an seinem Platz war. Es war ein wenig verrutscht, aber noch banden es genug Perlen an meinen Arm.
    Wie es sich für ein Herrschendes Drachenauge gehörte, stand ich in der Mitte des Steinkompasses. Als die anderen Drachenaugen ihre Plätze über den

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