Drachentochter
Reihe kniender Jungen hinüber. Sie waren die wirklichen Anwärter; ich war ein Mädchen, ein Krüppel, ein Scheusal. Was tat ich hier nur? Welcher Wahnsinn hatte meinen Meister befallen? Wie konn te er an unseren Erfolg glauben? Er irrte sich: Ich schaffte das nicht. Wir mussten aufhören, verschwinden. Ehe wir entlarvt und getötet wurden.
Ich packte ihn am Gewand und meine Schwertspitzen verfingen sich in der Seide.
»Meister, wir müssen –«
Er legte mir die Hand auf die Schulter und drückte so fest zu, dass Knochen und Sehnen gegeneinanderrieben. Es tat entsetzlich weh.
»Ich verabschiede mich jetzt von dir, Eon«, erklärte mein Meister mit befehlender Stimme. Sein Daumen drückte in die weiche Höhlung meiner Schulter, raubte mir den Atem und lähmte mich. »Unser Schicksal liegt nun in deiner Hand.« Er schüttelte mich ein wenig und sah mir dabei fest in die Augen. »Hast du verstanden?«
Ich nickte. Die Umrisse der Kammer verschwammen in grauem Dunst.
»Jetzt reih dich ein.«
Er stieß mich so unvermittelt weg, dass ich taumelte. Ich hatte keine Wahl. Es gab kein Zurück.
Ich ging an der Reihe der knienden Anwärter vorbei, die alle mit geschlossenen Augen im Gebet versicherten, dem Rattendrachen dienen zu wollen. Ich würde um etwas anderes beten: um eine Möglichkeit zur Flucht. Ich legte meine Schwerter auf den Steinboden vor meinem Platz. Nummer vier – die Zahl des Todes. Unbeholfen ließ ich mich auf die Knie sinken. Die verborgene Münze grub sich mir in den Oberschenkel, als ob Hüfte und Schulter mir noch nicht weh genug täten. Ich spürte den Blick meines Meisters noch immer auf mir, doch ich sah nicht auf. In seinem Gesicht gab es nichts, was ich hätte sehen wollen.
4
Wir knieten zwei Stunden lang auf dem Boden. Die erste Stunde über spannte ich meine Muskeln von den Zehen bis zur Kopfhaut immer aufs Neue sorgfältig an und entspannte sie wieder, wie mein Meister es mich gelehrt hatte, um mich warm und gelenkig zu halten. Im Laufe der zweiten Stunde war die Kälte zunehmend stärker als ich und ließ die Gelenke geradezu einrosten. Ich ballte abwechselnd die Fäus te und streckte die Finger wieder und war froh, wärmeres Blut in den Adern kribbeln zu spüren.
Rechts von mir rückte Quon mit dem Hintern herum. Sein Gesicht war verzerrt. Auf der anderen Seite bewegte Lanell die Hände wie Tausendfüßler die Oberschenkel hinauf und hinunter, wobei sich das Seidengewand bauschte.
Plötzlich löste sich aus den vielen aufgeregten Stimmen am oberen Ende der Rampe ein markiger Ruf.
»Geht mir aus dem Weg.«
Einige Beamte hetzten herbei und bildeten eine graue Barrikade, um einen großen, kräftig gebauten Mann davon abzuhalten, zu uns herunterzukommen. Ein älterer Beamter trat vor und das Sonnenlicht brach sich in seinem dicken, rubinroten Rangabzeichen. Er verbeugte sich tief.
»Lord Ido, nicht weiter! Bitte.«
Was tat Lord Ido hier? Gemäß der Überlieferung durfte das angehende Herrschende Drachenauge keinen Kontakt mit den Anwärtern haben. Ich hatte ihn stets nur aus der Ferne gese hen, wenn er an den offiziellen Zeremonien teilnahm, und der große Abstand hatte seine Züge verwischt. Nun war er ganz nah. In die Reihe der Anwärter kam Bewegung, als sie die Köpfe hoben, um zu sehen, wer den Aufruhr verursacht hatte.
Ich blinzelte, um im grellen Gegenlicht des Eingangs zur Rampe weitere Einzelheiten zu erkennen. Lord Ido geöltes schwarzes Haar war zum Doppelzopf des Drachenauges gebunden und am Oberkopf zu einem hohen Knoten aufgesteckt. Er hatte eine Gelehrtenstirn, eine lange Nase, wie sie auch die fremden Teufel besaßen, die der Kaiser in die Stadt gelassen hatte, und einen mächtigen dunklen Bart. Doch es war seine bedrohliche Ausstrahlung, die die Beamten auseinanderstieben ließ. Lord Ido bewegte sich nicht wie ein Drachenauge, sondern wie ein Krieger.
Er bahnte sich seinen Weg durch die Gruppe der Beamten, indem er die Männer, die allesamt schmächtiger waren als er, mit dem Unterarm beiseitestieß. All seine Bewegungen waren kraftvoll und entschlossen, während die anderen Drachenaugen stets sorgsam darauf bedacht waren, möglichst wenig Energie einzusetzen. Obwohl er die traditionellen Gewänder des Herrschenden Drachenauges trug, verhüllten sie die Konturen seines Körpers nicht: Sein langer Mantel aus kostbarster tiefblauer Seide, die fast völlig unter der schweren Goldstickerei verschwand, ließ erkennen, wie breit seine Schultern und sein
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