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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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eingemeißelt: Ratte, Büffel, Tiger, Hase, Drache, Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Hahn, Hund und Schwein. Die Handwerker des Kaisers hatten den riesigen Kreis auf eine ausgeklügelte Vorrichtung gesetzt, sodass er am Neujahrstag um eine Figur weitergedreht werden konnte und der Drache, in dessen Zeichen das neue Jahr stand, in den Scheitelpunkt des Kreises und damit an die höchste Stelle des Tors rückte. Im Moment befand sich dort noch der Schweinedrache, doch sobald der Rattendrache seinen neuen Lehrling erwählt hatte, würden die Torbeamten den Kreis drehen, um das neue Jahr anzuzeigen – und den Beginn des neuen Zwölfjahreskreises. Ein sehr verheißungsvoller Tag. Nebenan wurden an einem Verkaufsstand zur Feier des Tages schon Mondkekse mit Zimt gebacken, deren Duft mich glauben ließ, ich hätte in Butter gesottene Gewürze auf der Zunge. Mein Magen zog sich zusammen. Ich hätte das Brot essen sollen.
    Die Träger senkten unsere Sänfte behutsam auf die Hebesteine. Froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, stieg ich rasch aus und half meinem Meister herunter.
    »Wartet nach der Zeremonie auf mein Zeichen«, sagte er und entließ die Männer vorläufig.
    Die Torbeamten in den Gewändern des alten und neuen Jahrs verbeugten sich vor uns in vollkommenem Gleichklang.
    »Bringt Ihr uns einen der Zwölf, die dem Rattendrachen dienen wollen?«, fragte das Neue Jahr. Sein Blick glitt feindselig an mir hinab. Die murmelnde Menge hinter uns verstummte. Ich hatte das Gefühl, tausend missbilligende Augen seien auf mich gerichtet.
    Mein Meister und ich verbeugten uns.
    »Ich, Heuris Brannon, bringe einen von denen, die dem Rattendrachen dienen wollen«, sagte mein Meister.
    »Dann zeigt mir Euren Tribut für das alte Drachenauge, das seinen Platz nun für das neue Drachenauge und dessen neuen Lehrling räumt«, sagte das Alte Jahr. Er wenigstens schien mir gegenüber unvoreingenommen.
    Mein Meister öffnete den Deckel der mit Einlegearbeiten verzierten Schatulle. Ein schweres Goldamulett in Form eines eingerollten Drachen prangte auf weichem schwarzem Samt. Ich holte hörbar Luft. Dieses Schmuckstück musste ein Vermögen wert sein – genug, um den Haushalt meines Meisters monatelang zu unterhalten. Wie brachte er es fertig, sich davon zu trennen? Er starrte das Amulett einen Moment lang an und straffte dann die Schultern.
    »Ich bringe dem Drachenauge, das durch seinen Nachfolger abgelöst wird, diesen Tribut; möge er wieder zu Kräften kommen und lange leben.«
    Er reichte dem Neuen Jahr, das seinem Amtsbruder einen seltsamen, herausfordernden Blick zuwarf, die Schatulle. Das Alte Jahr runzelte die Stirn und wiegte kaum merklich den Kopf.
    Das Neue Jahr klappte die Schachtel zu. »Die Gabe ist annehmbar«, sagte er knapp und gab sie an den Wächter weiter. »Geht hinein.«
    Die beiden Beamten verbeugten sich und traten ins Häuschen zurück.
    »Danke«, sagte mein Meister trocken.
    Wir schritten langsam durchs Tor und kamen in einen langen, halbdunklen Gang. Hinter uns brach lauter Jubel los. Etwa meinetwegen? Mein Herz machte einen Sprung und ich schaute zurück.
    Die Torbeamten begrüßten gerade Heuris Kane und Baret, den Liebling der Menge. Für den Krüppel hatte es also keinen Jubel gegeben.
    »Noch einer von Idos Günstlingen«, sagte mein Meister, der sich auch nach Kane umgedreht hatte. »Aber keine Sorge, Eon. Ido kann andere drangsalieren und sich Gefolgschaft erkaufen, doch selbst er vermag keinen Drachen zu beeinflussen. Und es sieht so aus, als wären seine Anhänger nicht geneigt, sich gegen den Drachenrat zu erheben. Vorläufig jedenfalls nicht. Wir werden ja sehen, was geschieht, wenn er Herrschendes Drachenauge wird.«
    Trotz meines dünnen Seidengewands sammelte sich Schweiß in den Achselhöhlen und am Hosenbund. Meine Aufregung ließ die Kräutertinktur, mit der ich mich während des abendlichen Reinigungsrituals eingerieben hatte, wieder stärker duften, und ich sehnte mich danach, dieses zählebige Parfüm loszuwerden. Vor uns lag ein Halbkreis aus Licht, durch den schattenhafte Gestalten liefen.
    Wir verließen den kühlen Tunnel und kamen in einen lang gezogenen Saal, der von Wandlampen beleuchtet war. Der Geruch von Schweiß und brennendem Sesamöl schwängerte die Luft, und die angespannte Stille ließ die schlurfenden Schritte der grau gekleideten Beamten, die auf dem Steinfußboden hin und her liefen, noch lauter klingen. Die übrigen Anwärter knieten meditierend am anderen

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