Drachentochter
Brustkorb waren, und die kreuzweise geschnürten hellblauen Hosen betonten seine muskulösen Waden. Ich schlug die Augen nieder.
»Aus dem Weg«, befahl er. »Ich will die Anwärter sehen.«
Ich straffte mich und wusste, dass sich jeder Anwärter in der Reihe nun aufrichtete und die Brust vorschob, während Lord Ido auf uns zutrat.
Der alte Beamte eilte ihm voraus. »Lord Ido«, kündigte er an, um dem Protokoll wenigstens ansatzweise Genüge zu tun.
Neben mir machte Quon eilends eine tiefe Verbeugung. Ich tat es ihm gleich, bis mein Kopf nur noch eine Fingerlänge von meinen Schwertern entfernt war und sich meine weit geöffneten Augen in der einen, meine blutleeren Lippen in der anderen blank polierten Klinge spiegelten.
»Seid gegrüßt, Lord Ido«, riefen wir im Chor.
»Setzt euch auf«, sagte er. »Zeigt mir euer Gesicht.«
Gehorsam richteten wir uns auf, hielten den Blick aber sorgsam gesenkt.
Seine goldfarbenen Schuhe gingen an mir vorbei. Ich wag te es, rasch zu ihm aufzuschauen, denn ich rechnete damit, seinen Rücken zu sehen. Stattdessen trafen sich unsere Blicke und ich sah das seltsam bleiche Bernsteingelb seiner Augen.
»Wer bist du, Junge?«
»Eon, Herr.«
Er musterte mich kurz. Ich fühlte mich, als wäre ich der glühenden Sonne nackt und hilflos ausgesetzt.
»Brannons Krüppel«, sagte er schließlich. »Schäm dich. Du nimmst einem gesunden Jungen seine Chance.«
Ich hörte die anderen Anwärter nach Luft schnappen, doch mir war, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen, der mir den Atem raubte. Selbst wenn ich die Gunst des Rattendrachen gewinnen könnte, würde Lord Ido mich niemals als Lehrling annehmen. Ich wich zurück, um ihm weniger Angriffsfläche zu bieten, doch er war mit mir fertig. Langsam schritt er weiter und blieb erst wieder vor dem Zehnten in der Reihe stehen – vor Baret.
»Du bist Kanes Anwärter?«, wollte er wissen.
»Ja, Herr«, erwiderte Baret.
Ein Empörungsschrei und der Lärm eines Handgemenges rissen uns aus unserem steifen Gehorsam. Quon rutschte ein wenig vor, um die Reihe hinunterzublicken. Ich zögerte, erhob mich dann aber auf die Knie und reckte den Kopf über Lanell hinweg.
Der alte Beamte zerrte an Lord Idos Arm, damit das Drachenauge die Hände von Barets Kopf nahm.
»Lord Ido, das geht zu weit!«, rief er.
»Verschwinde, du Narr.« Er schüttelte den alten Mann ab. »Du gehorchst jetzt mir.«
»Nein. Noch sitzt Lord Meram dem Drachenrat vor.« Der Beamte wich kurz zurück und griff dann erneut nach Idos Arm. »Ihr dürft die Zeremonie nicht beeinflussen.«
Der Lord holte zu einer saftigen Ohrfeige aus, die den Beamten auf alle viere stürzen ließ. Seine Wangenhaut war aufgerissen und er schüttelte benommen den stark blutenden Kopf. Lord Ido funkelte die niedrigeren Beamten, die sich hinter ihrem Kollegen versammelt hatten, wütend an.
»Lord Meram ist gestern Abend zu meinen Gunsten zurückgetreten. Ich bin jetzt der Vorsitzende des Rats. Stellt einer von euch sich gegen mich?«
E in Beamter nach dem anderen verbeugte sich furchtsam.
Lord Ido schnaubte und wies mit dem Kopf auf den am Boden liegenden Beamten.
»Schafft ihn weg.«
Zwei Männer eilten herbei und halfen dem Alten auf. Lord Ido wandte sich wieder an uns.
»Zurück ins Glied«, befahl er.
Wir rutschten wieder auf unsere Plätze, und doch machte die Reihe einen winzigen Bogen, da alle sich so hinknieten, dass sie Lord Ido aus den Augenwinkeln beobachten konnten. Er legte Baret die Hände auf den Kopf. Was tat er da? Unbehagliches Flüstern lief durch die Reihen der Beamten. Lord Ido holte tief Luft und schien dann zu einer solchen Größe anzuwachsen, als zöge er Energie aus der Erde.
Dann drückte mich die Kraft, die plötzlich von ihm ausging, auf die Fersen hinunter.
Sein Körper schien zu Glas geworden zu sein. Ich sah die sieben Energiepunkte in seinem Körper, die vom Steißbein bis zur Schädeldecke in ihrer jeweiligen Farbe schimmerten: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Tiefblau und Violett. Sie alle waren durch silberweiße Hua-Ströme verbunden, die ihn vom Boden bis zu den Händen durchliefen und in Baret übergingen. Trotz der lodernden Herrlichkeit zog es mein geistiges Auge zum grünen Herzpunkt in seiner Brust, dem Sitz des Mitleids. Er war kleiner und trüber und dort floss das Hua nur schwach und unregelmäßig.
Und dann war meine Vision vorbei.
Ich sank nach vorn, holte tief Luft und spürte, dass Quon und Lanell mich verblüfft ansahen.
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