Drachentochter
Verstanden? Schwertmeister Jin-pa und ich können mit der Sequenz des Rattendrachen beginnen, aber auch mit der des Büffel- oder Pferdedrachen. Ihr alle werdet einen anderen Kampf fechten, in dem zwar alle zwölf Sequenzen vorkommen, aber nicht nach der Abfolge der Drachen im Drachenkreis. Das wird eure Reflexe und eure Voraussicht testen.«
Ein beklommenes Murmeln lief durch die Reihe. Unser Training war weitgehend darauf ausgerichtet gewesen, die Sequenzen einzeln und in der richtigen Reihenfolge vorzuführen. An eine Kampfvorführung, bei der die Sequenzen wild durcheinandergingen, hatte niemand gedacht.
Jin-pa trat hinter Ranne vor. Sein Brustharnisch trug das Schriftzeichen für Pflichterfüllung. Ich hatte nur einmal mit diesem anständigen Mann trainiert, der mir bei dieser Gelegenheit gezeigt hatte, wie ich trotz meines lahmen Beins einen Tritt landen konnte. Er nahm den Helm ab und schob ihn unter seinen Arm. Das Polster hatte Abdrücke auf seinem schmalen Gesicht hinterlassen, was ihm die Anmutung eines freundlichen Totenschädels verlieh.
»Jungs, macht euch keine Sorgen. Ihr kennt die Sequenzen ja alle. Jetzt müsst ihr bloß dem vertrauen, was ihr gelernt habt, und eure Bewegungen aus eurem Hua kommen lassen«, sagte er aufmunternd. »Die Regeln des zeremoniellen Kampfs stimmen mit denen des Übungskampfs völlig überein: Die Kontrahenten dürfen einander nur mit der Breitseite des Schwertes oder dem Ende des Waffengriffs berühren. Und denkt daran: Hier geht es darum, Technik und Durchhaltevermögen zu zeigen. Konzentriert euch darauf, die erste Figur jeder Sequenz zu erkennen, und dann –«
Ranne machte eine gereizte Bewegung. »Sie sind bestens vorbereitet«, unterbrach er Jin-pa, ohne dessen verärgerten Blick zu beachten. »Jetzt ist es Zeit, der Herausforderung zu begegnen und euern Meistern und Ahnen Ehre zu machen.«
»Gut gesagt, Schwertmeister Ranne«, versetzte Lord Ido und ließ Jin-pa mit einer Handbewegung zurücktreten. »Wollt Ihr gegen die Anwärter mit den geraden oder den ungeraden Startnummern kämpfen?«
Ranne sah die Reihe entlang, als müsste er darüber nachdenken. Durch die Augenschlitze seines Helms sah ich seinen Blick über Baret huschen. Zu welch frühem Zeitpunkt unserer Trainings mochte Lord Ido dies alles geplant haben?
»Gegen die geraden Startnummern«, sagte Ranne.
Galle stieg mir in die Kehle. Nummer vier – die Zahl des Todes. Hatte Ranne sie für mich gezogen und schon gewusst, dass ich seiner Gnade ausgeliefert sein würde?
Lord Ido wandte sich uns zu. »Die Anwärter mit den geraden Startnummern treten gegen Schwertmeister Ranne an, die mit den ungeraden Nummern gegen Schwertmeister Jin-pa. Ist das klar?«
»Ja, Lord Ido«, riefen wir gehorsam im Chor. Ich hörte die Erleichterung in Quons Stimme.
Der Klang ferner Trommeln und Trompeten ließ die höheren Beamten zur Rampe eilen. Quon und ich tauschten einen wissenden Blick: Der Kaiser hatte sich auf die kurze Reise vom Palast zur Arena gemacht. Jetzt würde es nicht mehr lan ge dauern.
Im Vorjahr hatte ich an der Straße gestanden und als einer von vielen die lange Prozession bestaunt, die Seine Kaiserliche Majestät zur Zeremonie geleitet hatte. Der herrliche Anblick stand mir noch lebhaft vor Augen. Ich wusste, dass die breite Prachtstraße nun voller Trommler und Trompeter war, die einen Marsch spielten, der eigens für diesen Tag komponiert worden war. Hinter ihnen gingen viele Reihen gepanzerter Keulenschwinger und Schwert- und Lanzenkämpfer, von deren Waffen seidene Flaggen wehten. Zwölf Männer auf prächtigen Rappen ritten in Dreierreihen und trugen die mächtigen Banner der Drachen; ihnen folgten viele kastrierte Fußsoldaten in dunkelblauer Palastlivree, und alle schwangen Rauchgefäße, aus denen würziger Duft drang. Dann kamen hundert Lampenträger, deren geschnitzte Laternen an hohen vergoldeten Stäben schaukelten. Dahinter schritten die jungen Adligen, die sich gerade besonderer Gunst erfreuten, in ihren prächtigsten Gewändern und verkündeten in Sprechchören die Vasallentreue ihrer Familien und die baldige Ankunft des Kaisers. Dann fiel die Menge im aufgewirbelten Staub auf die Knie, während der schöne Erbe, Prinz Kygo, vorbeiritt. Zuletzt zog der Kaiser ernst und erhaben auf einem weißen, mit goldenem und perlenbesetztem Zaumzeug geschmückten Hengst vorbei, umgeben von hundert kaiserlichen Palastwachen, die jeweils zwei grausam gezackte, zum Gruß gekreuzte Schwerter
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