Drachentochter
Gegenwart gespürt.
Außer gestern Abend.
Bei diesem Gedanken setzte ich mich auf. Jemand hatte mein geistiges Auge geöffnet, als Lord Ido versuchte, mich zu verzaubern. Es musste der rote Drache gewesen sein – wer sonst? Er rief nach mir.
War das möglich? Ich hatte nie etwas Derartiges gehört. Aber ich wusste ja noch immer sehr wenig über die Drachen. Vielleicht wartete er nur darauf, dass ich wieder in die innere Sicht eintauchte, um mir seinen Namen zu sagen. Ich setzte die Teeschale ab, lehnte mich wieder ans Kopfende des Bettes, atmete tief durch und versuchte, mich zu entspannen und mich auf die Energiewelt zu konzentrieren. Doch meine Muskeln zuckten, meine Hüfte tat weh und mein Geist schlingerte zwischen Angst und Hoffnung. Es war, als wollte ich auf einem Dornenlager Ruhe finden.
Zuletzt hatte ich den roten Drachen in der warmen Abgeschiedenheit meines Badezimmers gesehen. Vielleicht würde ein weiteres Bad mir helfen, ihm erneut zu begegnen.
Rilla goss mir einen Eimer Wasser über die Schultern.
»Zu oft zu baden, schwächt den Körper, sagt man«, bemerkte sie spitz.
Ich rückte ungeduldig auf dem Hocker hin und her und glättete den Lendenschurz zwischen den Fingern. »Ich lege mich jetzt ins Becken.«
»Aber ich hab dir die Arme und Beine noch gar nicht geschrubbt.«
»Sie sind ja auch nicht schmutzig.«
Ohne mich um meine steife Hüfte zu kümmern, schlurfte ich über die Fliesen ans Becken, ging die Stufen hinunter und watete rasch durch das warme Wasser zur Sitzbank. Rilla verschränkte die Arme und beobachtete mich stirnrunzelnd.
»Ist alles in Ordnung?«
Ich setzte mich auf die Bank, lehnte mich zurück und stütz te wie am Vortag den Kopf auf die Beckenkante.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte ich.
Sie blinzelte leicht pikiert. »Gut, ich komme zurück, wenn die Glocke halb schlägt«, sagte sie und griff nach den Eimern. »Sonst kommst du noch zu spät zum Prinzen.« An der Tür drehte sie sich noch mal zu mir um. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Ich nickte und schloss die Augen, bis ich den Riegel einschnappen hörte.
Mit einem tiefen Seufzer glitt ich tiefer, bis mir das Wasser bis ans Kinn reichte, und ließ den Blick über den Beckenrand schweifen – keine Spur von den Drachen. Der Dampf ließ meine Zunge nach Ingwer schmecken, was den bitteren Nachgeschmack des Gebräus minderte, das die Geistmacherin meinem Meister gegeben hatte. Ich betrachtete das Mosaik von Brin, dem Flussgott, an der gegenüberliegenden Wand und zählte meine Atemzüge. Beim zehnten Ausatmen verschwamm meine Sicht, während mein geistiges Auge nach dem durchs Bad strömenden Hua griff. Ich spürte ein leichtes Pulsieren von Energie auf der Haut. Ringsum bewegten sich große, schattenhafte Umrisse und dunkle Augen beobachteten mich. Ich drang tiefer in die Energie ein. Wie Sonnenlicht langsam ins Dunkel kriecht, so erhellte sich der Kreis geisterhafter Schemen, bis die in den Farben des Regenbogens strahlenden Drachen zu erkennen waren – doch einer fehlte.
Ich ließ die schwere Enttäuschung nicht an mich heran, sondern atmete tief ein und tastete mich am Hua entlang, um den Spiegeldrachen aufzuspüren, wobei ich mich auf die Lü cke im Kreis konzentrierte. Der Dampf flimmerte und wirbelte und nahm schließlich Gestalt an: dunkle Augen, ein rotes Maul, die goldene Perle. Das alles war in tiefen Dunst gehüllt.
»Ich kenne deinen Namen nicht«, sagte ich. Meine Stimme hallte im Bad wieder. »Ich kenne deinen Namen nicht.«
Die riesigen Augen blickten durch mich hindurch.
»Bitte, wie heißt du?«
Ich stand auf. Vielleicht musste ich die Perle erneut berühren. Mit ausgestreckten Händen watete ich vorwärts, doch bei jedem Schritt wurde der Dunst dichter, bis der Drache hinter einer Nebelwand nahezu unsichtbar war. Ich blieb vor dieser Wand stehen. Der schwache Umriss der Perle schimmerte durch den Schleier. Ich griff danach, doch meine Hand glitt durch sie hindurch: Der Drache war nicht wirklich da. Ich streckte beide Hände aus und tastete im Nebel herum. Nichts.
»Was willst du? Was soll ich tun?«, fragte ich flehentlich.
Plötzlich durchzuckte mich eine Erinnerung – meine Hände, die mit der pulsierenden Perle verschmolzen waren, während der Drache Schicht um Schicht meines Bewusstsein abtrug auf der Suche nach dem Namen, den ich tief in mir vergraben hatte, dem Namen, den ich nicht preisgeben durfte. Wollte er ihn erfahren, ehe er mir seinen nannte? Ich blickte mich
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