Drachentochter
Eunuchen wie eine brummende Fliege Befehle zuraunte.
»Lehrer, zeigt uns die Schwertsammlung der Bibliothek, bevor die jungen Damen kommen«, sagte der Prinz und erhob sich von den Knien.
Prahn lächelte. »Immer wollt Ihr die Schwerter sehen, Hoheit. Wann werdet Ihr jemals eine ähnliche Begeisterung für die Schriften der Philosophen aufbringen?«
Der Prinz zuckte die Achseln. »Ihr wollt die Schwerter doch auch sehen, Lord Eon, oder?«
Ich nickte, mehr um dem Prinzen eine Freude zu machen als aus echtem Interesse. »Und ich würde sehr gern mehr von Eurer Bibliothek sehen, Lehrer Prahn«, sagte ich. »Gibt es hier auch Drachentexte?« Vielleicht gab es in der Sammlung ja etwas, was mir bei der Suche nach dem Namen des roten Drachen helfen konnte.
»Natürlich nicht, Mylord«, sagte Prahn und verzog tief erschrocken die blassen Lippen. »Diese Texte werden seit eh und je von den Drachenaugen in ihren Hallen aufbewahrt.« Er hielt inne und runzelte die Stirn. »Wartet, das stimmt so nicht. Wir besitzen tatsächlich einen Drachentext – ein rotes Lederportfolio, umwickelt mit schwarzen Perlen, die man auf Seide gefädelt hat. Ein ausgesprochen schönes Stück. Es handelt sich um einen der wenigen Schätze des Spiegeldrachen, die vor dem Feuer gerettet werden konnten.« Er rieb sich die Nasenwurzel, als hätte er Kopfweh. »Ich bin sicher, dass ich das Portfolio bei den übrigen Dingen gesehen habe. Die Restauratoren richten es sicher für die Feier des Zwölften Tages her, an dem Seine Hoheit diese Kostbarkeiten wieder Eurer Obhut übergeben wird.«
»Darf ich es sehen? Könnt Ihr es mir jetzt zeigen?«
»Vor der Feier des Zwölften Tages?« Prahn wiegte sich nervös hin und her.
»Ja, ich muss es sehen.« Ich versuchte, meine Stimme nicht allzu ungeduldig klingen zu lassen.
Der Prinz bemerkte meine Anspannung. »Das ist doch si cher kein Problem, Lehrer«, sagte er. »Die Schätze gehen doch ohnehin demnächst in Lord Eons Eigentum über.«
Prahn rang die Hände. »Ich bin mir nicht sicher … nein, nein, das entspricht nicht der üblichen Vorgehensweise.«
Ich biss mir auf die Lippe und blickte den Prinzen an. Ich musste den Text sehen.
Das Auftreten des Prinzen veränderte sich plötzlich. »Lord Eon wird einen Blick auf sein Eigentum werfen, Lehrer Prahn«, sagte er, stand auf und trat an den Gelehrten heran. Zum ersten Mal erkannte ich den jungen Herrscher in ihm. »Bringt uns sofort dorthin.«
Prahn erstarrte kurz und verneigte sich dann, bis die Stirn den Holzboden berührte. »Jawohl, Hoheit.«
Er rappelte sich auf, blieb halb gebückt stehen, als der Prinz den Pavillon verließ, und verharrte in dieser Stellung, während ich dem künftigen Kaiser aus dem Zimmer der Gleichheit über die Holzbrücke folgte.
Die flachen Gebäude, in denen die Bibliothek untergebracht war, glichen denen im ersten Hof, doch die Fensterläden waren schlicht und die Türen mit dicken Metallstreben verstärkt. Mit gebeugten Schultern führte Prahn uns zu den Gebäuden auf der linken Seite. Der Prinz ließ sich etwas zurückfallen, um sich meinem Tempo anzupassen.
»Denkt Ihr, diese Schrift enthält die Geheimnisse des Spiegeldrachen?«, fragte er leise.
Er ging so dicht neben mir, dass ich den würzigen Duft der Kräuter roch, mit denen man die Kleiderschränke auslegte.
»Ich weiß es nicht, Hoheit.« Es war schwer zu sagen, wo das Dunkelbraun seiner Augen auf das Schwarz der Pupillen traf, und diese Unscharfe gab seinem Blick etwas eigenartig Ausdrucksstarkes. »Möglich ist es. Sollte es allerdings so sein, erschiene es mir seltsam, dass der Text noch nie studiert wurde.«
»So seltsam wäre das gar nicht«, erwiderte der Prinz. »Mein Vater sagte mir, der Tresor sei während der Abwesenheit des Spiegeldrachen die ganze Zeit versiegelt gewesen.«
Ich nickte mit wachsender Spannung.
»Das ist das Gelehrtentor, Lord Eon«, sagte Prahn und wies in eine schmale Gasse zwischen den ersten beiden Gebäuden, an deren Ende sich ein massives, in die Außenmauer des Harems eingesetztes Metalltor befand. Einer der groß gewachsenen Eunuchen der Palastgarde stand dort Wache und zeigte nur durch eine leichte Kopfbewegung, dass er unser Vorbeikommen bemerkt hatte.
»Es gibt noch ein zweites Tor«, flüsterte der Prinz, »das Konkubinentor, das den Damen des Harems bei Gefahr als Fluchtweg dient. Nur die kaiserliche Garde hat Kenntnis, wo es sich befindet. Aber ich weiß zufällig, dass Frauen durch dieses Tor den
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