Drachentochter
sparsam möbliert. Der interessanteste Dekorationsgegenstand war Lehrer Prahn, ein alter Eunuch, dessen Haut so blass war, dass die blauen Adern hindurchschimmerten. Sein Schädel war kahl rasiert bis auf eine lange Locke am Oberkopf, Zeichen dafür, dass er sein Leben den Wissenschaften geweiht hatte. Offenbar lebte er in dem Pavillon, obwohl nichts darauf hindeutete, dass er dort seine Wohnung hatte. Vielleicht versteckte er seine Matratze jeden Morgen in der großen Kommode oder schob die harten Kissen, auf denen wir saßen, zusammen, um darauf zu schlafen.
»… und die Bibliothek deckt fast jedes Fachgebiet ab, das die Menschheit kennt. Es wäre mir eine Ehre, Euch nach dem Unterricht die Bestände zu zeigen«, sagte Prahn, breitete die Arme aus und wies auf die Gebäude, die den Hof umgaben.
Ich nickte schuldbewusst, denn mir war klar, dass ich in Gedanken versunken gewesen war. »Gerne. Das würde mich sehr interessieren.«
Draußen im Harem erklang das verschlungene Geflecht ei ner von mehreren Instrumenten gespielten Musik. »Die Da men üben«, hatte der Prinz mir zugeflüstert, als die Melodie, die mich nicht mehr losließ, erstmals erklungen war.
»Wir besitzen alle Werke der großen Philosophen«, fuhr der Lehrer fort, »und unsere Landkarten zeigen die gesamte bekannte Welt.«
»Prahn ist der Hüter der Bibliothek«, sagte der Prinz. »Er kennt alles darin.«
Der Lehrer senkte bescheiden den Kopf. »Das wäre mir neu, Hoheit. Aber ich habe die Ehre, mich um die Sammlung kümmern zu dürfen. Sie ist wirklich ausgezeichnet – von nah und fern reisen Gelehrte an, um unsere Schriften zu studieren.«
»Und sie kommen in den Harem?«, fragte ich.
»Nur in diesen Hof«, versicherte mir Prahn. »Es gibt ein kleines Tor im Osten, das Gelehrtentor, durch das man in die Bibliothek gelangt. Und alle Papiere werden genau geprüft.«
»Für Gelehrte ist die Bibliothek nur nachmittags geöffnet«, sagte der Prinz. »Die jungen Damen des Harems haben vormittags Unterricht, wenn meine Stunden vorbei sind. Nicht wahr, Lehrer?« Seine Stimme klang amüsiert.
Prahns Gesicht wurde puterrot. »Ja, Hoheit.«
Der Prinz beugte sich zu mir herüber. »Meine Schwestern bereiten ihm viele Sorgen. Sie stellen ständig Fragen und ziehen seine Antworten in Zweifel.«
»Ich wusste nicht, dass man Frauen unterrichten kann. Wie Gelehrte«, sagte ich, und diese Vorstellung ließ meine Kopfhaut kribbeln.
Der Prinz nickte eifrig. »Mein Vater sagt, er ertrage den Umgang mit ahnungslosen Narren nicht. Und meine Schwestern werden eines Tages in hohe gesellschaftliche Stellungen einheiraten, in denen sie mehr können müssen, als nur zu musizieren und zu tanzen. Natürlich sind einige der Ansicht, Frauen zu unterrichten, könne nur Unglück bringen.« Der Prinz warf Prahn einen verschmitzten Blick zu. »Doch was der Kaiser befiehlt, muss richtig sein. Nicht wahr, Lehrer?«
Prahn beugte den Oberkörper. »Der Himmlische Meister ist so weise wie großzügig.«
»Das freut mich zu hören«, sagte eine Stimme von der Schwelle her. Wir drehten uns um und sahen den Kaiser in einem von zwei kräftigen Dienern getragenen Sessel sitzen. Links von ihm stand sein Leibarzt, rechts standen dessen zwei Eunuchen.
»Vater!«, rief der Prinz. »Ihr habt nicht gesagt, dass Ihr heute herkommen würdet.«
Der Kaiser wies nach vorn und der goldene Nagelaufsatz an seinem Zeigefinger funkelte im Licht. Die Diener trugen ihn ins Zimmer und setzten den Sessel sanft am Kopfende des Tisches ab. Der Leibarzt, der diesmal in verschiedene Blautö ne gekleidet war, blieb an seiner Seite und befahl den Eunuchen, einen Hocker so hinzustellen, dass der Kaiser seinen Fuß dar auf absetzen konnte.
»Schluss«, polterte der Kaiser. In dem langen purpurfarbenen Tagesgewand schien seine eingefallene Gestalt fast zu versinken, und die kaiserliche Perle, die fahl und rein an seiner Kehle glänzte, betonte nur den gelben Schimmer seiner Haut und ließ ihn noch kränker erscheinen als beim Bankett.
Er entließ sein Gefolge mit einer Handbewegung und Arzt und Diener verneigten sich und verschwanden rückwärts durch die Tür. Der Prinz fiel vor seinem Vater auf die Knie. Ich beugte die Stirn bis zum Boden hinunter und Prahn warf sich bäuchlings neben mich.
»Aber, aber, wie lautet die Regel im Pavillon der Irdischen Erleuchtung?«, fragte der Kaiser tadelnd.
»Alle, die ihn betreten, sind in ihrem Streben nach Wissen und Weisheit gleich«, versetzte Prinz Kygo
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