Drachentränen
Friedensstifter, aber sehr viel weiter als diese, weil seine Erleuchtung dank der Voraussicht und Kühnheit der Mutter bereits im Mutterleib begann.
Dann änderte sich alles durch einen schlechten Trip. Sie konnte sich zwar nicht an alle Bestandteile des chemischen Cocktails erinnern, der den Anfang vom Ende ihres Lebens markierte, doch sie wusste, dass unter anderem LSD und der pulverisierte Panzer eines seltenen asiatischen Käfers darin gewesen waren. Aus den strahlenden und erhebenden Halluzinationen, die sie für den höchsten Bewusstseinszustand hielt, den sie je erreicht hatte, wurde plötzlich ein Horrortrip, der sie mit einer namenlosen, aber lähmenden Furcht erfüllte.
Selbst als der schlechte Trip endete und die Halluzinationen von Tod und genetischen Schrecken vorbei waren, blieb ihr die Furcht - und wurde von Tag zu Tag größer. Zunächst verstand sie nicht, woher diese Angst kam, doch dann konzentrierte sie sich auf das Kind, das in ihr wuchs, und verstand allmählich, dass sie in ihrem veränderten Bewusstseinszustand eine Warnung erhalten hatte: Ihr Baby war kein Dylan, sondern ein Monster, es würde der Welt nicht Licht, sondern Dunkelheit bringen.
Ob diese Einschätzung nun richtig oder nur eine von Drogen herbeigeführte Wahnvorstellung war, ob das Kind in ihr bereits ein mutiertes Wesen oder noch ein ganz normaler Fötus war, würde sie niemals wissen, denn aus ihrer überwältigenden Angst heraus tat sie Dinge, durch die möglicherweise der entscheidende, das Erbgut verändernde Faktor erst ins Spiel gebracht wurde, der zusammen mit ihrem exzessiven Drogenkonsum Bryan zu dem machte, was er später werden sollte. Sie bemühte sich um eine Abtreibung, aber nicht auf dem üblichen Wege, denn sie hatte Angst vor Hebammen mit ihren Kleiderbügeln und vor Hintertreppenärzten, die der Alkoholismus dazu getrieben hatte, sich außerhalb des Gesetzes zu stellen. Statt dessen griff sie zu bemerkenswert unorthodoxen und letztlich gefährlicheren Methoden.
»Das war ‘72.« Sie klammerte sich an das Geländer und bewegte sich unter den Laken, um ihren halbseitig gelähmten und verbrauchten Körper in eine bequemere Lage zu bringen. Ihre weißen Haare standen wie Drähte ab.
Das Licht fiel jetzt aus einem etwas anderen Winkel auf ihr Gesicht, und Harry bemerkte, dass die milchig-weiße Haut über ihren leeren Augenhöhlen von einem Netz feinster blauer Adern durchzogen war.
Seine Uhr zeigte 2:16.
Sie sagte: »Der Supreme Court legalisierte Abtreibungen erst Anfang ‘73, als ich im neunten Monat war, deshalb war es zu spät für mich.«
Allerdings wäre sie, selbst wenn Abtreibungen legal gewesen wären, vielleicht trotzdem nicht in eine Klinik gegangen, weil sie vor Ärzten Angst hatte und ihnen misstraute. Als erstes versuchte sie das ungewollte Kind mit Hilfe eines mystischen indischen Homöopathen loszuwerden, der in einer Wohnung in Haight-Ashbury praktizierte, dem damaligen Zentrum der Gegenkultur in San Francisco. Er gab ihr zunächst eine Reihe von Kräutertränken, von denen man wusste, dass sie die Gebärmutterwände angriffen und manchmal eine Fehlgeburt auslösten.
Als diese Medikamente nichts nützten, versuchte er es mit starken Kräuterspülungen, die er mit immer kräftigerem Druck verabreichte, um das Kind wegzuspülen.
Als diese Behandlung ebenfalls versagte, wandte sie sich in ihrer Verzweiflung an einen Quacksalber, der die für kurze Zeit gängige Radiumspülung anbot, die angeblich nicht so stark radioaktiv war, dass sie der Frau schadete, aber für den Fötus tödlich war. Auch diese radikale Methode hatte keinen Erfolg.
Es kam ihr so vor, als ob das ungewollte Kind sich ihrer Bemühungen, es loszuwerden, bewusst wäre, und sich mit unmenschlicher Zähigkeit an das Leben klammerte, ein abscheuliches Ding, das bereits im Mutterleib stärker als jedes normale ungeborene Lebewesen war, einfach unverwundbar.
2:18.
Harry war ungeduldig. Bisher hatte sie ihnen nichts erzählt, was ihnen helfen könnte, mit Ticktack fertig zu werden. »Wo können wir Ihren Sohn finden?«
Jennifer spürte wahrscheinlich, dass sie nie wieder eine Zuhörerschaft wie diese haben würde, und war - egal was es kostete - nicht bereit, ihre Geschichte auf deren Zeitplan zuzuschneiden. Das Erzählen war für sie eindeutig eine Form der Sühne.
Harry konnte die Stimme der Frau und auch den Anblick ihres Gesichtes nicht länger ertragen. Er ließ Connie am Bett stehen und ging zum Fenster, um in den
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