Drachentränen
Art von persönlicher Frage, die Harry normalerweise gestellt hätte und weswegen Connie ihm bisher immer ungeduldige, böse Blicke zugeworfen hatte, weil sie das Wichtigste doch schon erfahren hatten.
»Weshalb kommt Bryan sie immer wieder besuchen?« fragte Connie.
»Um mich zu quälen«, sagte die Frau.
»Nur deswegen - wo er doch eine ganze Welt voller Menschen zur Verfügung hat, die er quälen kann?«
Jennifer Drackman ließ die Hand von dem Bettgeländer gleiten, das sie die ganze Zeit umklammert hatte und sagte: »Liebe.«
»Er kommt hierher, weil er Sie liebt?«
»Nein, nein. Er nicht. Er ist unfähig zu lieben, weiß überhaupt nicht, was das Wort bedeutet, meint das nur zu wissen. Aber er will von mir Liebe.« Ein trockenes, humorloses Lachen entfuhr der skelettartigen Gestalt auf dem Bett. »Können Sie sich vorstellen, dass er deshalb zu mir kommt?«
Harry stellte überrascht fest, dass er ungewollt Mitleid mit dem psychotischen Kind empfand, das diese gestörte Frau gegen ihren Willen zur Welt gebracht hatte.
Dieses Zimmer war zwar durchaus warm und gemütlich, aber der letzte Ort auf der Welt, zu dem man auf der Suche nach Liebe gehen sollte.
Kapitel 6
Dichter, tiefer und kühler Nebel ergoss sich vom Pazifik über die nächtliche Küste. Er schwebte durch die schlafende Stadt wie der Geist eines uralten Ozeans, dessen Wasserspiegel sich weit über dem des heutigen Meeres befand.
Harry fuhr auf dem Küsten-Highway nach Süden, schneller, als es bei der begrenzten Sichtweite ratsam schien. Er war zu dem Schluss gekommen, dass das Risiko eines Auffahrunfalls geringer war als die Gefahr, zu spät zum Drackman-Haus zu kommen, um Ticktack zu erwischen, bevor sich seine Energie regeneriert hatte.
Seine Handflächen auf dem Lenkrad fühlten sich feucht an, als ob der Nebel sich auf seiner Haut niedergeschlagen hätte. Doch innerhalb des Lieferwagens war kein Nebel. <
2:27.
Fast eine Stunde war vergangen, seit Ticktack sich ausruhen gegangen war. Einerseits hatten sie in dieser kurzen Zeit viel erreicht. Doch auf der anderen Seite schien es, als sei die Zeit nicht wie ein Fluss, wie das Lied behauptete, sondern eine herunterstürzende Lawine von Minuten.
Hinten saßen Janet und Sammy in unbehaglichem Schweigen. Der Junge schlief. Der Hund wirkte unruhig.
Auf dem Beifahrersitz hatte Connie die kleine Leselampe an der Decke eingeschaltet. Sie ließ die Trommel ihres Revolvers herausschnappen, um sich zu vergewissern, ob in jeder Kammer eine Kugel war.
Das war schon das zweite Mal, dass sie nachsah.
Harry wusste, was sie dachte: Was wäre, wenn Ticktack aufgewacht war, die Zeit angehalten hatte, seit sie zum letzten Mal nachgesehen hatte, und alle Patronen herausgenommen hatte. Und wenn sie dann die Chance hätte, ihn zu erschießen, was wäre, wenn er nur grinste, während der Hahn gegen leere Kammern schlug?
Wie beim letzten Mal glitzerte in dem Revolver ein voller Satz Patronen. Alle Kammern waren geladen.
Connie ließ die Trommel wieder zuschnappen. Knipste das Licht aus.
Harry fand, dass sie extrem müde aussah. Das Gesicht abgespannt. Die Augen tränend und blutunterlaufen. Es bereitete ihm Sorgen, dass sie sich an den gefährlichsten Verbrecher ihrer bisherigen Laufbahn zu einem Zeitpunkt heranpirschen mussten, wo sie beide erschöpft waren. Jedenfalls war ihm klar, dass er weit von seiner normalen Verfassung entfernt war. Seine Wahrnehmung war getrübt, seine Reaktionen waren verlangsamt.
»Wer geht zu ihm ins Haus?« fragte Sammy.
»Harry und ich«, sagte Connie. »Wir sind die Profis. Das ist das einzig Vernünftige.«
»Und wir?« fragte Janet.
»Ihr wartet im Auto.«
»Ich hab* das Gefühl, ich sollte irgendwie helfen«, sagte Sammy.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Connie bestimmt.
»Wie kommen Sie rein?«
Harry sagte: »Meine Partnerin hat einen Satz Dietriche dabei.«
Connie klopfte gegen eine Jackentasche, um sich zu vergewissern, dass die Mappe mit dem Einbruchswerkzeug noch da war.
»Wenn er nun nicht schläft?« fragte Janet.
Harry sah im Fahren nach den Straßenschildern und sagte: »Er wird schlafen.«
»Wenn aber nicht?«
»Er muss schlafen«, antwortete Harry, was so ziemlich alles darüber sagte, wie erschreckend gering ihre Chancen waren.
2:29. Verdammt. Erst blieb die Zeit stehen, und jetzt rannte sie davon.
Die Straße hieß Phaedra Way. In Laguna Beach waren die Buchstaben auf den Straßenschildern sehr klein, kaum zu lesen.
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