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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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verantworten konnte, dass man ihre Patientin zu dieser unchristlichen Zeit störte, auch wenn einige von ihnen Polizeibeamte waren, und drohte für kurze Zeit noch ein viel größeres Hindernis für ihr Überleben darzustellen, als es die Nachtaufsicht gewesen war.
    Die ausgemergelte, kreidebleiche, knochige Frau auf dem Bett war ein schauriger Anblick, aber Harry konnte überhaupt nicht von ihr wegsehen. Sie zwang die Aufmerksamkeit auf sich, weil in ihrem jetzigen grauenvollen Zustand auftragische Weise noch eine schwache, aber unbestreitbare Spur ihrer einstigen Schönheit vorhanden war, etwas, das Gesicht und Körper, die von der Krankheit gezeichnet waren, innewohnte und das durch seine Weigerung, sie ganz aufzugeben, den schockierenden Vergleich erlaubte zwischen dem, was sie wahrscheinlich in ihrer Jugend gewesen, und dem, wozu sie geworden war.
    »Sie schläft.« Tanya Delaney sprach flüsternd wie sie alle. Sie stand zwischen ihnen und dem Bett und machte deutlich, dass sie ihren Job ernst nahm. »Sie schläft nicht oft so friedlich, deshalb möchte ich sie nur ungern wecken.«
    Hinter den aufgetürmten Kissen und dem Gesicht der Patientin stand auf einem Nachttisch neben einem Korktablett mit einer Chromkaraffe voll Eiswasser ein einfacher, schwarz lackierter Bilderrahmen mit dem Foto eines gut aussehenden jungen Mannes um die Zwanzig. Adlernase. Dichtes, schwarzes Haar. Seine hellen Augen wirkten auf dem Schwarzweißfoto grau und waren ganz sicher auch in Wirklichkeit grau, genau der Ton von leicht angelaufenem Silber. Es war der Junge mit den Jeans und dem Tecate T-Shirt, der Junge, der sich beim Anblick der Blut durchtränkten Opfer von James Ordegard mit einer rosa Zunge die Lippen geleckt hatte. Harry erinnerte sich an den Hasserfüllten Blick in den Augen des Jungen, nachdem er ihn hinter die gelbe Absperrung zurück gezwungen und vor der Menschenmenge gedemütigt hatte.
    »Das ist er«, sagte Harry leise und erstaunt.
    Tanya Delaney folgte seinem Blick. »Bryan. Der Sohn von Mrs. Drackman.«
    Harry wandte sich Connie zu und sagte: »Das ist er.«
    »Sieht gar nicht aus wie der Rattenmann«, sagte Sammy. Er hatte sich in die Ecke des Raumes verzogen, die am weitesten von der Patientin entfernt war. Vielleicht hatte er sich daran erinnert, dass Blinde angeblich als Ausgleich für die fehlende Sehkraft ein besseres Gehör und einen schärferen Geruchssinn entwickelten.
    Der Hund jaulte leise auf.
    Janet Marco zog ihren schläfrigen Jungen enger an sich heran und starrte besorgt auf das Foto. »Sieht ein bisschen aus wie Vince… die Haare… die Augen. Kein Wunder, dass ich geglaubt habe, Vince wäre zurückgekommen.«
    Harry fragte sich, wer Vince sein mochte, entschied aber, dass das jetzt nicht so wichtig war, und sagte zu Connie: »Wenn ihr Sohn tatsächlich alle Rechnungen bezahlt -«
    »O ja, das tut er«, sagte Schwester Delaney. »Er sorgt so gut für seine Mutter.«
    »- dann muss die Verwaltung seine Adresse haben«, beendete Connie den Satz.
    Harry schüttelte den Kopf. »Die Nachtaufsicht lässt uns ganz bestimmt nicht die Unterlagen einsehen. Sie wird sie mit ihrem Leben bewachen, bis wir mit einem Durchsuchungsbefehl zurückkommen.«
    Schwester Delaney sagte: »Ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich gehen, bevor sie sie aufwecken.«
    »Ich schlafe nicht«, sagte die weiße Vogelscheuche im Bett. Ihre für immer geschlossenen Augenlider zuckten noch nicht einmal, sie blieben schlaff, als ob die Muskeln in den Lidern im Laufe der Jahre verkümmert wären. »Und ich will sein Foto nicht hier haben. Aber er zwingt mich dazu.«
    Harry sagte: »Mrs. Drackman -«
    »Miss. Sie nennen mich hier zwar Mrs. aber das bin ich nicht. Nie gewesen.« Ihre Stimme war schwach, aber nicht brüchig. Spröde. Kalt. »Was wollen Sie von ihm?«
    »Miss Drackman«, fuhr Harry fort, »wir sind von der Polizei. Wir müssen Ihnen einige Fragen über Ihren Sohn stellen.«
    Wenn sie die Gelegenheit hatten, etwas mehr als Ticktacks Adresse zu erfahren, dann sollten sie die nutzen, glaubte Harry. Die Mutter würde ihnen vielleicht etwas erzählen, durch das sie auf eine Möglichkeit stießen, wie ihrem außergewöhnlichen Sprössling beizukommen war, selbst wenn sie keine Ahnung hatte, was wirklich mit ihm los war.
    Sie war einen Augenblick still und kaute auf ihrer Lippe herum. Ihr Mund war verkniffen, und ihre Lippen waren so blutleer, dass sie fast grau waren.
    Harry sah auf seine Uhr.
    2:08.
    Die ausgemergelte Frau

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