Drachentränen
nachts zu weit ging und sie im Suff totschlug? Wie sollte Danny allein zurechtkommen, so klein und hilflos wie er war? Mit der Zeit fürchtete sie mehr, dass Danny etwas Schlimmes zustoßen könnte als ihr selbst. Eigentlich hätte das ihre Sorgen noch vergrößern müssen, doch es wirkte merkwürdigerweise befreiend. Vince wurde das nicht klar, aber er war nicht mehr der einzige Fixpunkt in ihrem Leben. Ihr Kind war durch seine bloße Existenz ein Grund zur Auflehnung und eine Quelle des Muts.
Sie hätte vielleicht immer noch nicht den nötigen Mut gehabt, ihr Joch abzuwerfen, wenn Vince nicht die Hand gegen den Jungen erhoben hätte. Eines Nachts vor einem Jahr, als sie in dem heruntergekommenen Mietshaus mit dem vertrockneten braunen Rasen am Stadtrand von Tucson wohnten, war Vince, nach Bier, Schweiß und dem Parfüm einer anderen Frau riechend, nach Hause gekommen und hatte Janet aus Spaß verprügelt. Danny war damals vier, noch zu klein zwar, um seine Mutter zu beschützen, doch alt genug, um zu spüren, dass er ihr helfen musste. Als er im Schlafanzug auftauchte und einzuschreiten versuchte, schlug sein Vater ihn mehrfach brutal, warf ihn auf den Boden und trat nach ihm, bis der Junge weinend und total verängstigt aus dem Haus und auf den Hof kroch.
Janet hatte die Schläge mit angesehen, doch später, als ihr Mann und ihr Sohn schliefen, war sie in die Küche gegangen und hatte ein Messer aus dem Wandgestell neben dem Herd genommen. Zum ersten - und vielleicht letzten - Mal in ihrem Leben vollkommen furchtlos, war sie ins Schlafzimmer zurückgekehrt und hatte wiederholt auf Vince’ Kehle, Hals, Brust und Bauch eingestochen. Er war nach dem ersten Stich wach geworden, hatte versucht zu schreien, aber nur ein Gurgeln hervorgebracht, weil sein Mund sich mit Blut füllte. Er wehrte sich kurz und vergeblich.
Nachdem sie im Nebenraum nach Danny gesehen hatte, um sich zu vergewissern, dass er nicht aufgewacht war, hatte Janet Vince’ Leiche in die blutbefleckten Bettlaken gewickelt* Sie band das Leichentuch an seinen Knöcheln und am Hals mit Wäscheleine zusammen, schleifte ihn durch das Haus, durch die Küchentür hinaus und über den Hinterhof.
Der hohe Mond leuchtete abwechselnd schwach und hell, weil Wolken wie Galeonen nach Osten über den Himmel segelten, aber Janet machte sich keine Sorgen, dass man sie sehen könnte. Die Baracken an diesem Abschnitt der Ausfallstraße lagen weit auseinander, und in den beiden am nächsten gelegenen Häusern brannte kein Licht.
Von der bitteren Erkenntnis getrieben, dass die Polizei sie, genauso gut wie Vince es getan hätte, von Danny trennen könnte, zog sie die Leiche bis ans Ende des Grundstücks und von dort in die nächtliche Wüste, die sich unbewohnt bis zu dem weit entfernten Gebirge erstreckte. Sie kämpfte sich zwischen Büschen von Büffelgras und noch verwurzelten Steppenläufern hin-
durch, an einigen Stellen über weichen Sand und an anderen über harte Schieferplatten.
Das kalte Licht des Mondes fiel auf eine feindselige Landschaft aus harten Schatten und scharf abgegrenzten Alabasterformen. An einer Stelle, an der die Schatten besonders tief waren - einem von Jahrhunderte langen, flutartigen Überschwemmungen gegrabenen, ausgetrockneten Flusslauf - ließ Janet die Leiche liegen.
Sie streifte die Bettlaken von der Leiche ab und begrub sie, doch für den Kadaver selbst hob sie kein Grab aus, weil sie hoffte, dass nachts herumstreifende Aasfresser und die Geier die Knochen schneller blank fressen würden, wenn sie sie offen liegen ließ. Wenn die Wüstenbewohner erst einmal die weichen Kuppen von Vince’s Fingern abgenagt und weggepickt hatten, die Sonne und die Aasfresser mit ihm fertig waren, könnte seine Identität nur noch aufgrund zahnärztlicher Unterlagen bestimmt werden. Da Vince jedoch selten beim Zahnarzt gewesen war und nie zweimal bei demselben, würde es keine Unterlagen geben, die die Polizei heranziehen könnte. Mit etwas Glück würde die Leiche bis zur nächsten Regenzeit unentdeckt bleiben, und dann würden die kümmerlichen Überreste meilenweit weggespült, durcheinander gebracht, zerbrochen und mit anderem Unrat vermischt, bis sie praktisch verschwunden wären.
In jener Nacht packte Janet das bisschen, das sie besaßen, zusammen und fuhr mit Danny in dem alten Dodge fort. Sie wusste selbst nicht recht, wohin sie fuhr, bis sie die Staatsgrenze überquert hatte und in Orange County gelandet war. Das musste ihr endgültiges Ziel
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