Drachentränen
Janet, und sie konnte sich niemanden vorstellen, der in einer verzweifelteren Situation als sie war.
Aus einer großen, braunen Plastiktonne fischte sie ein halbes Dutzend Aluminiumdosen, die jemand bereits flach geklopft hatte und die eigentlich zum Recyceln hätten aussortiert werden müssen. Sie steckte sie in Dannys Müllsack.
Der Junge sah mit ernstem Gesicht zu. Er sagte nichts. Er war ein stilles Kind. Sein Vater hatte ihn so weit eingeschüchtert, dass er fast stumm war, und in dem einen Jahr, seit Janet diesen herrschsüchtigen Mistkerl aus ihrem Leben entfernt hatte, hatte Danny nur wenig von seiner Verschlossenheit verloren.
Janet warf einen Blick zurück auf das Auto. Es war noch da.
Die Schatten der Wolken fielen auf die Gasse, und eine leichte, nach Salz riechende Brise erhob sich. Irgendwo aus der Ferne über dem Meer hörte man ein leises Donnergrollen.
Sie eilte zur nächsten Tonne, Danny hinterher.
Der Hund, den Danny Woofer getauft hatte, schnupperte an den Müllcontainern, trottete zum nächsten Tor und steckte seine Schnauze durch die Metallstäbe. Sein Schwanz wedelte ununterbrochen. Er war ein freundlicher Köter, einigermaßen gut erzogen, etwa so groß wie ein Golden Retriever mit schwarzbraunem Fell und einem niedlichen Gesicht. Doch Janet nahm die Kosten, ihn mit durchzufüttern, nur in Kauf, weil er den Jungen in den letzten Tagen so oft zum Lächeln gebracht hatte. Bevor Woofer aufgetaucht war, hatte sie fast vergessen gehabt, wie Dannys Lächeln aussah.
Wieder schaute sie nach dem ramponierten Dodge. Es war alles in Ordnung.
Sie blickte zum anderen Ende der Gasse und dann zu der von Unterholz überwucherten Schlucht und den sich schälenden Stämmen der riesigen Eukalyptusbäume auf der anderen Seite. Sie hatte nicht nur Angst vor Autodieben oder vor Anwohnern, die etwas dagegen haben könnten, dass sie in ihren Mülltonnen herumwühlte. Sie hatte außerdem Angst vor dem Cop, der sie seit kurzem schikanierte. Nein. Kein Cop. Etwas, das sich für einen Cop ausgab. Diese merkwürdigen Augen und das freundliche, sommersprossige Gesicht, das sich unversehens in ein Wesen aus einem Alptraum verwandeln konnte…
Die Angst war Janet Marcos Religion. Sie war in diesen grausamen Glauben hineingeboren worden, ohne es zu merken, wie jedes Kind bereit, zu staunen und sich zu freuen. Doch ihre Eltern waren Alkoholiker und das Sakrament der destillierten Geister brachte in ihnen einen unheiligen Zorn und den Hang zum Sadismus hervor. Sie unterwiesen sie leidenschaftlich in den Dogmen und Doktrinen des Kults der Angst. Sie lernte nur einen Gott kennen, der weder eine bestimmte Person noch eine Kraft war. Für sie war Gott einzig und allein Macht, und wer die ausübte, wurde automatisch in den Status einer Gottheit erhoben. So war es nicht weiter erstaunlich, dass sie, sobald sie alt genug war, ihren Eltern zu entkommen, einem Typ wie Vince Marco verfiel, der seine Frau schlug und jeden ihrer Schritte kontrollierte. Zu jenem Zeitpunkt ging sie bereits voll in ihrer Opferrolle auf, hatte das Verlangen, unterdrückt zu werden. Vince war faul und träge, ein Säufer, Spieler und Schürzenjäger, aber äußerst geschickt und voller Energie, wenn es darum ging, sich eine Ehefrau Untertan zu machen.
Acht Jahre lang waren sie im Westen herumgezogen, nie länger als sechs Monate in einer Stadt geblieben, wobei Vince für das Allernotwendigste sorgte, wenn auch nicht immer auf ehrliche Weise. Er wollte nicht, dass Janet Freundschaften einging. Solange er der einzige Fixpunkt in ihrem Leben war, hatte er sie total unter Kontrolle. Es war nämlich niemand da, der ihr raten oder sie dazu ermuntern konnte, sich gegen ihn aufzulehnen.
Solange sie unterwürfig war und ihre Angst vor ihm deutlich zeigte, schlug und quälte er sie weniger brutal, als wenn sie sich gelassener verhielt und ihm das Vergnügen verweigerte, sich an ihrem Schmerz zu weiden. Der Gott der Angst wusste die sichtbaren Beweise der Ergebenheit seiner Anhänger ebenso zu schätzen wie der christliche Gott der Liebe. Widersinnigerweise wurde die Angst zu ihrer Zuflucht und zum einzigen Schutz vor noch schlimmeren Grausamkeiten.
Und sie hätte wahrscheinlich so weitergemacht, bis sie nur noch ein zitterndes, verängstigtes Tier gewesen wäre, das sich in seinem Bau verkriecht… doch Danny kam und rettete sie. Nachdem er geboren war, hatte sie um ihn genauso viel Angst wie um sich selbst. Was würde mit Danny geschehen, wenn Vince eines
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