Drachentränen
sein, weil sie es sich nicht leisten konnte, mehr Geld für Benzin auszugeben, um weiter von dem toten Mann in der Wüste wegzukommen.
In Tucson würde sich niemand darüber wundern, was mit Vince passiert war. Schließlich war er nur ein Herumtreiber. Sich davonzumachen und weiter zuziehen entsprach seinem Lebensstil.
Doch Janet hatte panische Angst davor, sich um Sozialhilfe oder sonst eine Art von Unterstützung zu bemühen. Man könnte sie ja fragen, wo ihr Mann sei, und sie traute sich nicht zu, überzeugend lügen zu können.
Außerdem konnte es ja sein, dass trotz der Aasfresser und der sengenden Sonne Arizonas jemand über Vince’ Leiche stolperte, bevor sie unidentifizierbar geworden war. Wenn seine Witwe und sein Sohn in Kalifornien auftauchten und staatliche Unterstützung beantragten, dann würde vielleicht irgendwo in einem Computer eine Verbindung hergestellt und ein aufmerksamer Sozialarbeiter sähe sich bemüßigt, die Cops zu verständigen. Und wenn man ihre Neigung bedachte, sich jeder Autoritätsperson zu beugen - ein tief in ihr verwurzelter Charakterzug, der nur wenig durch die Ermordung ihres Mannes gemildert worden war -, hatte Janet wohl kaum eine Chance, eine polizeiliche Untersuchung zu überstehen, ohne sich selbst zu belasten.
Dann würde man ihr Danny wegnehmen.
Das konnte sie nicht zulassen. Würde sie auch nicht.
Auf der Straße, obdachlos bis auf den verrosteten und klapprigen Dodge, entdeckte Janet Marco, dass sie ein Talent zum Überleben hatte. Sie war nicht dumm; sie hatte bisher nur nie die Chance gehabt, ihren Verstand zu erproben. Von einer Gesellschaft, mit deren Abfällen man einen beträchtlichen Teil der Dritten Welt ernähren könnte, krallte sie sich einen Zipfel zweifelhafter Sicherheit und nahm für sich und ihren Sohn so selten wie möglich eine Wohlfahrtsküche in Anspruch.
Sie hatte gelernt, dass die Angst, von der sie seit langem durchdrungen war, sie nicht unbedingt lahmte. Sie konnte auch motivierend sein.
Die Brise war abgekühlt und hatte sich zu einem unberechenbaren Wind verstärkt. Das Donnergrollen war immer noch weit entfernt, aber lauter, als in dem Augenblick, wo Janet es zum ersten Mal gehört hatte. Nur im Osten war noch ein Stückchen blauer Himmel zu sehen, und das verschwand so schnell, wie es die Hoffnung üblicherweise tut.
Nachdem sie die Mülltonnen von zwei Blocks durchwühlt hatten, gingen Janet und Danny, angeführt von Woofer, zum Dodge zurück.
Auf gut der Hälfte des Weges blieb der Hund plötzlich stehen, legte den Kopf schief, um auf etwas zu lauschen, das über dem Pfeifen des Windes und dem Chor flüsternder Stimmen lag, die aus den bewegten Eukalyptusblättern kamen. Er gab ein tiefes Brummen von sich und schien einen Augenblick verwirrt, dann wandte er sich um und sah an Janet vorbei. Er fletschte seine Zähne, und das Brummen verstärkte sich zu einem leisen Knurren.
Sie wusste, was die Aufmerksamkeit des Hundes erregt hatte. Sie brauchte gar nicht erst nachzusehen.
Dennoch war sie gezwungen, sich umzudrehen und sich der Bedrohung zu stellen, wenn schon nicht um ihretwillen, dann doch zumindest für Danny. Der Laguna-Beach Cop, der Cop, war knapp drei Meter von ihr entfernt.
Er lächelte, das tat er immer am Anfang. Er hatte ein angenehmes Lächeln, ein freundliches Gesicht und schöne blaue Augen.
Wie immer war kein Streifenwagen zu sehen, keinerlei Hinweis, wie er in diese Gasse gekommen war. Es war, als ob er zwischen den sich schälenden Stämmen der Eukalyptusbäume auf sie gewartet hätte, wie ein Hellseher wissend, dass sie genau an diesem Tag, zu dieser Stunde und auf diesem Weg die Mülltonnen plündern würde.
»Wie geht’s Ihnen, Ma’am?« fragte er. Seine Stimme war am Anfang sanft, fast melodisch.
Janet antwortete nicht.
Als er sie letzte Woche zum ersten Mal angesprochen hatte, hatte sie ängstlich und nervös reagiert, ihre Augen mit dem übergroßen Respekt abgewendet, den sie ihr Leben lang der Autorität entgegengebracht hatte - bis auf jene blutige Nacht am Rand von Tucson. Doch sie hatte rasch gemerkt, dass er nicht das war, für das er sich ausgab, und dass er einen Monolog einem Dialog vorzog.
»Sieht so aus, als kriegten wir ein bisschen Regen«, sagte er jetzt mit einem Blick auf den bewölkten Himmel.
Danny hatte sich an Janet gedrängt. Sie legte ihren freien Arm um ihn und zog ihn noch dichter an sich heran. Der Junge zitterte.
Sie zitterte ebenfalls und hoffte, dass Danny es nicht
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