Drachentränen
erspart blieb, mit einem künstlichen Darmausgang leben zu müssen.
Er war nicht im Dienst gewesen, als er in den Laden ging, zwar war er bewaffnet, aber hatte nicht mit Ärger gerechnet. Er hatte seiner Frau Anita versprochen gehabt, auf dem Weg von der Arbeit einen Liter Milch und einen Becher Margarine mitzubringen.
Der Mann, der auf ihn geschossen hatte, erschien nie vor Gericht. Die Ablenkung durch Ricky hatte es dem Ladeninhaber, einem Mr. Wo Tai Han, ermöglicht, sich die Schrotflinte zu schnappen, die hinter der Theke lag. Mit einer Patrone Kaliber 12 hatte er dem Kerl den Hinterkopf weggeschossen.
Aber da das im letzten Jahrzehnt des Jahrtausends passierte, war das noch nicht alles. Die Eltern des Räubers verklagten Mr. Han, weil er sie der Zuneigung, Gesellschaft und finanziellen Unterstützung ihres verstorbenen Sohnes beraubt hatte, obwohl dieser Cracksüchtige nicht in der Lage war, auch nur eines dieser Dinge zu geben.
Harry trank einen Schluck Kaffee. Er war gut und stark. »Hast du in letzter Zeit was von Mr. Han gehört?«
»Yeah. Er ist ganz zuversichtlich, dass er in der Berufung gewinnt.«
Harry schüttelte den Kopf: »Man kann heutzutage nie wissen, was eine Jury tun wird.«
Ricky lächelte gezwungen. »Yeah, ich habe wahrscheinlich Glück gehabt, dass ich nicht auch noch verklagt wurde.«
Ansonsten hatte er nicht viel Glück gehabt. Zum Zeitpunkt der Schießerei waren er und Anita erst seit acht Monaten verheiratet. Sie blieb noch ein Jahr bei ihm, bis er wieder auf den Beinen war, doch als ihr klar wurde, dass er für den Rest seines Lebens ein alter Mann sein würde, sagte sie Schluss jetzt. Sie war sechsundzwanzig. Sie hatte noch ein ganzes Leben vor sich.
Außerdem wurde heutzutage der Satz im Ehe Gelöbnis, in dem es heißt »in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod uns scheidet«, weitgehend bis zum Ende einer längeren Probezeit von etwa einem Jahrzehnt als nicht bindend angesehen, so ähnlich wie man kein Recht auf eine Altersversorgung hatte, wenn man nicht mindestens fünf Jahre bei einer Firma gearbeitet hat. Seit zwei Jahren war Ricky allein.
Es musste ein besonderer Tag für Kenny G sein. Noch eins von seinen Liedern lief im Radio. Dieses war weniger melodisch als das erste. Es machte Harry nervös. Wahrscheinlich hätte ihn im Moment jedes Lied nervös gemacht.
»Was ist passiert?«
»Wie kommst du drauf, dass was passiert ist?«
»Weil du nie im Leben ohne triftigen Grund Freunde während der Arbeitszeit besuchen würdest. Du gibst dem Steuerzahler immer was für sein Geld.«
»Bin ich tatsächlich so pflichtbewusst?«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Ich muss dir als Kollege ganz schön auf den Wecker gegangen sein.«
»Manchmal.« Ricky lächelte.
Harry berichtete ihm von James Ordegard und seinem Tod inmitten der Schaufensterpuppen.
Ricky hörte zu. Er sprach sehr wenig, aber wenn er was zu sagen hatte, war es immer das Richtige. Er wusste, was man von einem Freund erwartete.
Als Harry verstummte und - anscheinend mit seinem Bericht am Ende - eine Zeitlang auf die Rosen im Regen starrte, sagte Ricky: »Das war noch nicht alles.«
»Nein«, gab Harry zu. Er holte die Kaffeekanne, schenkte ihnen nach und setzte sich wieder. »Da war dieser Penner.«
Ricky hörte sich auch diesen Teil genauso nüchtern an wie alles andere. Er wirkte nicht ungläubig. Nicht der geringste Zweifel war in seinem Blick oder in seiner Haltung zu erkennen. Nachdem er alles gehört hatte, sagte er: »Was hältst du denn davon?«
»Ich könnte mir das eingebildet haben, Halluzinationen.«
»Könntest du? DM?«
»Aber um Himmels willen, Ricky, wie könnte das denn wirklich gewesen sein?«
»Ist der Penner wirklich unheimlicher als der Amokläufer im Restaurant?«
In der Küche war es warm, aber Harry fror. Er legte beide Hände um die heiße Kaffeetasse. »Yeah. Er ist unheimlicher. Vielleicht nicht viel, aber schlimmer. Die Sache ist… meinst du, ich sollte mich aus psychischen Gründen beurlauben lassen und ein paar Wochen Therapie machen?«
»Seit wann glaubst du denn, dass diese Gehirnspüler überhaupt wissen, was sie tun?«
»Tu ich nicht. Aber ich wäre nicht besonders glücklich, wenn ein anderer Cop mit geladener Waffe herumliefe und Halluzinationen hätte.«
»Du bist für niemanden eine Gefahr außer für dich selbst, Harry. Eines Tages wirst du dich noch zu Tode sorgen. Sieh mal, was diesen Kerl mit den roten Augen betrifft - jedem passiert irgendwann im
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