Drachentränen
Hand zu den Augen gleiten. Sie zeichnete die Umrisse mit ihren Fingerspitzen nach, und was sie dabei entdeckte, ließ ihre Hand zittern.
Urplötzlich erinnerte sie sich nicht nur daran, weshalb sie an diesem Ort gelandet war, sondern auch an alles andere. Ihr Leben erschien schlagartig vor ihr, bis zurück in die Kindheit, weit mehr als das, woran sie sich erinnern wollte, mehr, als sie ertragen konnte.
Sie riss ihre Hand von den Augen weg und gab ein schwaches, unsagbar trauriges Geräusch von sich. Sie fühlte sich vom Gewicht der Erinnerung erdrückt.
Margaret kam zurück, die Schuhe quietschten leise.
Das Glas klirrte, als sie es auf den Nachttisch stellte.
»Ich mache das Bett hoch, dann können Sie trinken.«
Der Motor brummte, das Kopfende begann sich aufzurichten und zwang Jennifer in eine sitzende Haltung.
Als das Bett aufhörte, sich zu bewegen, sagte Margaret: »Was ist los, meine Liebe? Ich hatte den Eindruck, Sie haben versucht zu weinen… als ob Sie es könnten.«
»Kommt er immer noch?« fragte Jennifer mit zittriger Stimme.
»Natürlich kommt er. Mindestens zweimal die Woche. Als er Sie vor ein paar Tagen besucht hat, waren Sie sogar wach. Können Sie sich nicht mehr erinnern?«
»Nein. Ich… ich…«
»Er ist sehr treu.«
Jennifers Herz raste. Ein Druck legte sich auf ihre Brust. Ihre Kehle war vor Angst wie zugeschnürt, so dass sie kaum sprechen konnte: »Ich will… ich will…«
»Was ist denn los, Jenny?«
»… will ihn nicht hier haben!«
»Na aber, das meinen Sie doch nicht im Ernst.«
»Lassen Sie ihn nicht hier rein.«
»Er ist doch so anhänglich.«
»Nein. Er ist… er ist…«
»Mindestens zweimal die Woche, und dann sitzt er ein paar Stunden bei Ihnen, ob Sie nun bei uns sind oder sich in sich zurückgezogen haben.«
Jennifer schauderte bei dem Gedanken, dass er im Raum sein könnte, an ihrem Bett, wenn sie sich ihrer Umgebung nicht bewusst war.
Sie streckte die Hand blindlings aus, fand Margarets Arm und drückte ihn so fest sie konnte. »Er ist nicht wie Sie oder ich«, sagte sie eindringlich.
»Jenny, Sie regen sich nur auf.«
»Et ist anders.«
Margaret legte ihre Hand auf Jennifers und drückte sie beruhigend. »Ich möchte, dass Sie jetzt damit aufhören, Jenny.«
»Er ist kein Mensch.«
»Das meinen Sie nicht. Sie wissen nicht, was Sie sagen.«
»Er ist ein Monster.«
»Armes Kind. Beruhigen Sie sich, Liebes.« Eine Hand berührte Jennifers Stirn, begann, die Furchen zu glätten und die Haare zurückzustreichen. »Regen Sie sich nicht auf. Alles wird gut. Gleich geht’s unserer Kleinen wieder besser. Entspannen Sie sich, ganz ruhig, hier sind Sie sicher, wir lieben Sie, wir passen gut auf Sie auf…«
Nach einer Weile wurde Jennifer ruhiger - hatte aber immer noch Angst.
Der Duft nach Orangen machte ihren Mund wässrig. Margaret hielt das Glas, und Jennifer trank durch einen Strohhalm. Ihr Mund war nicht ganz in Ordnung. Gelegentlich hatte sie gewisse Schwierigkeiten mit dem Schlucken, doch der Saft war kalt und köstlich.
Als sie das Glas geleert hatte, ließ sie sich von der Schwester den Mund mit einer Papierserviette abtupfen.
Sie lauschte auf das wohltuende Plätschern des Regens in der Hoffnung, dass es ihre Nerven beruhigen würde. Das tat es nicht.
»Soll ich das Radio anstellen?« fragte Margaret.
»Nein, danke.«
»Ich könnte Ihnen etwas vorlesen, wenn Sie möchten. Gedichte. Gedichte hören Sie doch immer gern.«
»Das wäre schön.«
Margaret zog einen Sessel ans Bett und setzte sich. Das Umschlagen der Seiten, als sie eine bestimmte Stelle in einem Buch suchte, war ein frisches und angenehmes Geräusch.
»Margaret?« sagte Jennifer, bevor die Frau mit Lesen anfangen konnte.
»Ja?«
»Wenn er zu Besuch kommt…«
»Was dann, Liebe?«
»Sie bleiben doch bei uns im Zimmer, nicht wahr?«
»Wenn Sie das möchten, natürlich.«
»Gut.«
»Wie wäre es jetzt mit ein bisschen Emily Dickinson?«
»Margaret?«
»Hmmmmm?«
»Wenn er zu Besuch kommt und ich mich… ganz in mich zurückgezogen habe… dann lassen Sie mich doch nicht mit ihm allein, oder?«
Margaret schwieg, und Janet konnte das missbilligende Stirnrunzeln der Frau fast sehen.
»Das tun Sie doch nicht?« insistierte sie.
»Nein, meine Liebe, das tu ich niemals.«
Jennifer wusste, dass die Schwester log.
»Bitte, Margaret. Sie scheinen ein gütiger Mensch zu sein. Bitte.«
»Aber er liebt Sie doch. Er kommt so treu hierher, weil er Sie liebt. Es droht Ihnen
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