Drachentränen
trockenes Ufer gebracht zu werden.
Ab und zu, so wie jetzt, tauchte sie aus diesen falschen Welten in ihrem Inneren auf und wurde sich der Realität bewusst, in der sie tatsächlich lebte. Gedämpfte Stimmen in den Nebenräumen und auf den Fluren. Das Quietschen von Schuhen mit Gummisohlen. Der Kiefernduft des Desinfektionsmittels, medizinische Gerüche und manchmal (aber im Augenblick gerade nicht) der beißende Gestank von Urin. Sie war in frische, saubere Betttücher gewickelt, die kühl auf ihrer fiebrigen Haut waren. Als sie ihre rechte Hand aus dem Bettzeug herauszog und ausstreckte, stieß sie gegen das kalte, metallene Sicherheitsgitter an der Seite ihres Krankenhausbetts.
Zunächst nahm sie das Bedürfnis, ein seltsames Geräusch zu identifizieren, ganz in Anspruch. Sie versuchte nicht, sich aufzurichten, sondern hielt sich an dem Gitter fest und war absolut still. Sie lauschte angestrengt auf das, was zunächst wie das Toben einer Menschenmenge in einer fernen Arena klang. Nein. Keine Menschenmenge. Feuer. Das Kichern, Flüstern und Fauchen eines alles vernichtenden Brandes. Ihr Herz begann wie wild zu hämmern, doch schließlich erkannte sie, was es wirklich war, nämlich das genaue Gegenteil eines Feuers, ein Unwetter mit einem alles unter Wasser setzenden Platzregen.
Sie entspannte sich ein wenig, doch dann hörte sie ein Rascheln ganz in ihrer Nähe und erstarrte erneut voller Misstrauen. »Wer ist da?« fragte sie und war überrascht, dass sie undeutlich und mit schwerer Zunge sprach.
»Ah, Jennifer, Sie sind wach.«
Jennifer. Mein Name ist Jennifer.
Es war die Stimme einer Frau. Sie hörte sich an, als ob sie die mittleren Jahre bereits überschritten hätte, professionell, aber fürsorglich.
Jennifer kam die Stimme sehr bekannt vor, sie wusste, sie hatte sie schon mal gehört, aber das beruhigte sie nicht.
»Wer sind Sie?« fragte sie verwirrt, weil sie das Nuscheln nicht los wurde.
»Ich bin Margaret, meine Liebe.«
Die Schritte der Gummi besohlten Schuhe kamen langsam näher.
Jennifer schreckte zurück, weil sie schon halb mit einem Schlag rechnete, obwohl sie nicht wusste warum.
Eine Hand legte sich um ihr rechtes Handgelenk. Jennifer zuckte zusammen.
»Ganz ruhig, meine Liebe. Ich will nur Ihren Puls fühlen.«
Jennifer gab nach und lauschte auf den Regen.
Nach einer Weile ließ Margaret ihr Handgelenk los. »Schnell, aber schön regelmäßig.«
Die Erinnerung sickerte langsam in Jennifers Bewusstsein zurück. »Sie sind Margaret?«
»Das stimmt.«
»Die Tagesschwester?«
»Ja, meine Liebe.«
»Dann ist also Vormittag?«
»Fast drei Uhr nachmittags. Ich hab’ in einer Stunde frei. Dann wird Angelina sich um Sie kümmern.«
»Warum bin ich immer so durcheinander, wenn ich… aufwache?«
»Machen Sie sich darüber keine Sorgen, meine Liebe. Dagegen können Sie nichts machen. Ist Ihr Mund trocken? Möchten Sie etwas trinken?«
»Ja, bitte.«
»Orangensaft, Pepsi, Sprite?«
»Am liebsten Saft.«
»Ich bin gleich zurück.«
Schritte entfernten sich. Eine Tür ging auf. Blieb offen. Über dem Regen ertönten geschäftige Geräusche von anderswoher aus dem Gebäude, wo andere Leute ihren Tätigkeiten nachgingen.
Jennifer versuchte, sich in eine bequemere Lage im Bett zu bringen, wobei sie nicht nur erneut feststellte, wie schwach sie war, sondern auch merkte, dass ihre linke Seite gelähmt war. Sie konnte ihr linkes Bein nicht bewegen, noch nicht einmal mit den Zehen wackeln. Sie hatte kein Gefühl in ihrer linken Hand und im linken Arm.
Eine tiefe und schreckliche Furcht ergriff sie. Sie fühlte sich hilflos und verlassen. Sie musste sich unbedingt daran erinnern, wie sie in diesen Zustand und an diesen Ort geraten war.
Sie hob ihren rechten Arm. Auch wenn ihr bewusst war, dass er dünn und zerbrechlich sein musste, fühlte er sich schwer an.
Mit der rechten Hand berührte sie Kinn und Mund. Trockene, raue Lippen. Sie waren früher anders gewesen. Männer hatten sie geküsst.
Eine Erinnerung flackerte im Dunkel ihres Gedächtnisses auf: ein süßer Kuss und geflüsterte Koseworte. Es war nur eine bruchstückhafte Erinnerung, ohne Details, die nirgendwohin führte.
Sie berührte ihre rechte Wange, ihre Nase. Als sie die linke Hälfte ihres Gesichts untersuchte, konnte sie sie zwar mit den Fingerspitzen spüren, doch ihre Wange registrierte die Berührung nicht. Die Muskeln in dieser Gesichtshälfte fühlten sich an wie - verdreht.
Nach kurzem Zögern ließ sie ihre
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