Drachentränen
Wind kam aus der Limousine, als ob sich ein arktischer Sturm darin gestaut hätte, stach ihm in die Augen und brachte sie zum Tränen.
Nach ein paar Sekunden hörte der Wind auf. Der Sitz an der offenen Beifahrertür war leer.
Harry konnte genug vom Inneren der Limousine sehen, um ganz sicher zu sein, dass der Landstreicher nirgendwo da drinnen war, Trotzdem ging er um das Auto herum und sah in alle Fenster.
Er blieb am Heck des Autos stehen, fischte seinen Schlüssel aus der Tasche und schloss den Kofferraum auf. Er hielt seinen Revolver im Anschlag, während die Klappe aufschwang. Nichts: Ersatzreifen, Wagenheber, Schraubenschlüssel und Werkzeugtasche.
Während er die ruhige Wohngegend betrachtete, wurde sich Harry langsam wieder des Regens bewusst, den er kurze Zeit vergessen hatte. Ein senkrechter Fluss strömte aus dem Himmel. Er war bis auf die Haut durchnässt.
Er knallte die Kofferraumklappe zu und dann die Beifahrertür. Er ging zur Fahrerseite und setzte sich hinter das Lenkrad. Seine Kleidung machte dabei glucksende Geräusche.
Zuvor, auf der Straße im Zentrum von Laguna Beach, hatte der Penner einen starken Körpergeruch verströmt und einen umwerfend schlechten Atem. Doch im Auto war kein Gestank von ihm zurückgeblieben.
Harry verriegelte die Türen. Dann steckte er seinen Revolver wieder in das Schulterholster unter seinem durchnässten Sportjackett.
Er zitterte.
Auf dem Rückweg von Ricky Estefans Bungalow stellte Harry die Heizung an und drehte sie hoch auf. Wasser lief aus seinem nassen Haar und tropfte ihm in den Nacken. Seine Schuhe quollen auf und schlössen sich enger um seine Füße.
Er dachte an die sanft glühenden roten Augen, wie sie ihn durch das Autofenster angestarrt hatten, die nässenden, wunden Stellen in dem vernarbten und verdreckten Gesicht, die halbmondförmige Reihe abgebrochener, gelber Zähne - und plötzlich war er in der Lage, das Beunruhigende im Grinsen des Penners zu benennen, das ihn hatte zögern lassen, als er zum ersten Mal die Tür aufreißen wollte. Es war nicht das unsinnige Geplapper, was dieses seltsame, heruntergekommene Subjekt so bedrohlich machte. Auch nicht das Grinsen eines Verrückten. Es war das Grinsen eines Raubtiers, eines Hais auf Beutejagd, eines sich anpirschenden Panthers, eines Wolfs auf mitternächtlichem Streifzug, es war etwas viel Furcht erregenderes und tödlicheres als bloß ein verrückter Landstreicher.
Während des gesamten Wegs zum Special Projects in Laguna Niguel waren Umgebung und Straßen vertraut wie immer, die Autofahrer, an denen er vorbeifuhr, hatten nichts Geheimnisvolles an sich, es war nichts Ungewöhnliches am Spiel der Scheinwerfer im silberhellen Regen oder an dem metallischen Klicken, mit dem die Tropfen gegen das Blech der Limousine schlugen, nichts Beklemmendes an der Silhouette der Palmen gegen den stahlgrauen Himmel. Dennoch wurde er von einem unheimlichen Gefühl übermannt, und er bemühte sich, die Schlussfolgerung zu verdrängen, dass er mit etwas Übernatürlichem in Berührung gekommen war.
Ticktack, ticktack…
Er dachte an das, was der Penner noch gesagt hatte, als er aus dem Wirbelwind aufgetaucht war: Im Morgengrauen bist du tot.
Er sah auf seine Armbanduhr. Das Glas war immer noch nass vom Regenwasser, das Zifferblatt verzerrt, doch er konnte die Uhrzeit erkennen: achtundzwanzig Minuten nach drei.
Wann war Sonnenaufgang? Um sechs? Halb sieben? Irgendwo dazwischen. Spätestens in fünfzehn Stunden.
Das gleichmäßige Geräusch der Scheibenwischer hörte sich allmählich an wie der Unheil verkündende Rhythmus einer Totentrommel.
Das war lächerlich. Der Herumtreiber konnte ihm nicht die ganze Strecke von Laguna Beach bis zu Enriques Haus gefolgt sein - was bedeutete, dass der Penner nicht wirklich, sondern nur eingebildet war, und deshalb keine Bedrohung darstellte.
Er war nicht erleichtert. Wenn der Penner nur in seiner Fantasie existierte, war Harry zwar nicht in Gefahr, im Morgengrauen zu sterben. Doch dann blieb, soweit er sehen konnte, nur eine einzige andere Erklärung übrig, und die war keineswegs beruhigend: Er musste einen Nervenzusammenbruch haben.
Kapitel 12
Harrys Bürohälfte hatte etwas Tröstliches an sich. Das Notizbuch und der Satz Stifte lagen perfekt im rechten Winkel zueinander und waren exakt an den Ecken des Schreibtisches ausgerichtet. Die Messinguhr zeigte dieselbe Zeit wie seine Armbanduhr. Die Blätter der eingetopften Palme, des chinesischen
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