Drachentränen
Scharen von Kakerlaken krochen ihm aus Ohren, Nasenlöchern und Mund.
Für Bryan war das kein Alptraum. Er genoss seine Träume und wachte stets erfrischt und erregt daraus auf.
Die Straßen der Stadt lösten sich in die unzähligen Zimmer eines endlosen Bordells auf, wo in jedem reich verzierten Gemach eine andere schöne Frau darauf wartete, ihn zu beglücken. Nackt warfen sie sich vor ihm nieder und flehten ihn an, ihm zu Diensten sein zu dürfen, doch er würde mit keiner schlafen. Statt dessen schlachtete er jede Frau auf eine andere Art ab, ersann immer wieder neue Brutalitäten, bis er von ihrem Blut durchnässt war.
Sex interessierte ihn nicht. Macht war viel befriedigender als Sex, und am meisten befriedigte ihn die Macht zu töten.
Er konnte von ihren Schreien um Gnade nie genug bekommen. Ihre Stimmen klangen ähnlich wie das Quietschen der kleinen Tiere, die er gelehrt hatte, ihn zu furchten, als er noch ein Kind war und gerade erst angefangen hatte zu Werden. Er war dazu ausersehen, sowohl in der Traumwelt als auch in der wirklichen Welt zu herrschen und der Menschheit zu helfen, die Demut neu zu erlernen, die sie verloren hatte.
Er wachte auf.
Einige köstliche Minuten lang lag Bryan in einem Gewirr von schwarzen Betttüchern, wo er sich so bleich von der zerknitterten Seide abhob wie der leuchtende Schaum auf den Kronen der Wellen, die sich am Ufer unterhalb seiner Fenster brachen. Die Euphorie des blutrünstigen Traums blieb ihm noch eine Weile erhalten und war unermesslich besser als das Wonnegefühl nach einem Orgasmus.
Er sehnte den Tag herbei, an dem er die reale Welt so brutal behandeln konnte wie die Welt in seinen Träumen. Sie hatten Strafe verdient, diese wimmelnden Massen. In ihrer Ichbezogenheit hatten sie voller Stolz angenommen, dass die Welt für sie geschaffen worden wäre, zu ihrem Vergnügen, und sie waren über sie hergefallen. Doch er war der Höhepunkt der Schöpfung, nicht sie. Sie mussten zutiefst erniedrigt und ihre Anzahl musste reduziert werden.
Er war allerdings noch jung, noch nicht im Vollbesitz seiner Macht, noch im Werden. Er wagte noch nicht, damit anzufangen, die Erde zu reinigen, wie es seine Bestimmung war.
Nackt stieg er aus dem Bett. Die leicht kühle Luft auf seiner bloßen Haut fühlte sich gut an.
Neben dem schicken, ultramodernen, schwarz lackierten Bett mit den seidenen Laken enthielt das große Schlafzimmer keine weiteren Möbelstücke außer zwei passenden schwarzen Nachttischen und zwei schwarzen Marmorlampen mit schwarzen Schirmen. Keine Stereoanlage, kein Fernseher oder Radio. Es gab keinen Stuhl, auf dem man sich entspannen und lesen konnte. Bücher waren für ihn uninteressant, weil sie nicht das Wissen enthielten, das er sich aneignen musste, und keinerlei Unterhaltung boten, die der ebenbürtig war, die er sich selbst verschaffen konnte. Wenn er die Phantomkörper schuf und manipulierte, mit denen er durch die Außenwelt streifte, lag er am liebsten im Bett und starrte an die Decke.
Er hatte keine Uhr. Brauchte keine. Er war so auf die Mechanismen des Universums eingestellt, dass er immer auf die Stunde, Minute und Sekunde genau wusste, wie spät es war. Das war ein Teil seiner Gabe.
Die gesamte Wand gegenüber dem Bett war vom Fußboden bis zur Decke verspiegelt. Er hatte überall im Haus Spiegel; es gefiel ihm, was sie ihm von sich selbst zeigten, das Bildnis der Gottheit im Werden in all ihrer Anmut, Schönheit und Macht.
Abgesehen von den Spiegeln waren die Wände schwarz gestrichen. Die Decke war ebenfalls schwarz.
Auf den schwarz lackierten Brettern eines großen Bücherregals standen Hunderte mit Formaldehyd gefüllte Schraubgläser, die jeweils einen halben Liter fassten. Darin schwammen Augenpaare, die selbst bei tiefer Dunkelheit für Bryan sichtbar waren. Einige waren die Augen von menschlichen Wesen: Männer, Frauen, Kinder, die seine Strafe empfangen hatten; blau, braun, schwarz, grau und grün in diversen Schattierungen. Andere waren die Augen von Tieren, an denen er vor Jahren zum ersten Mal seine Macht ausprobiert hatte: Hausmäuse, Wüstenspringmäuse, Eidechsen, Schlangen, Schildkröten, Katzen, Hunde, Vögel, Eichhörnchen, Kaninchen; einige leuchteten selbst im Tod noch schwach und schimmerten blassrot, gelb oder grün.
Votivaugen. Ihm geopfert von seinen Untergebenen. Symbole, mit denen sie seine Macht, seine Überlegenheit, sein Werden anerkannten und ihn bewunderten und anbeteten.
Schaut mich an und zittert, sprach
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